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So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

Titel: So sollst du schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
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sich um und verpasste jedem, der sich auch nur umzudrehen wagte, eine Kopfnuss.
    »Bitte, Mr   Stern«, sagte ich, nachdem er auch mich erwischt hatte. Während der Schulzeit musste ich ihn Mr   Stern nennen, was mir ohnehin lieber war. »Ich bin mit Erbrochenem bekleckert.«
    Ich wandte mich ihm zu, damit er die Flecken auf meinem Kleid sehen konnte. Einen Moment lang wusste er nicht, was er tun sollte. Am liebsten war er mit mir noch strenger als mit allen anderen, nur um seine Hingabe an die Organisation unter Beweis zu stellen, doch er konnte nicht leugnen, dass ich über und über mit Miss Fowlers Erbrochenem besudelt war. Mit einer knappen Geste bedeutete er mir, zu gehen und mich zu säubern. Ich folgte der stinkenden Spur den Mittelgang entlang und blieb neben dem riesigen Kirchenportal stehen.
    Ich sah hinaus und erblickte Miss Fowler, die mitten auf den weißen Steinstufen zusammengebrochen war und auf höchst unschickliche Weise in Mrs   Gentles Armen lag, in aller Öffentlichkeit, wo jeder sie sehen konnte. Ihre roten Hände flatterten, ihr flaschengrüner Leib zuckte. Reglos stand ich da und sah zu, während mich ein tiefes Gefühl der Befriedigung durchströmte, sie in aller Öffentlichkeit so gedemütigt zu sehen, nach all dem Leid und den Demütigungen, die sie mir zugefügt hatte. Am liebsten hätte ich einen Freudentanz aufgeführt. Da haben Sie ’ s, Miss Fowler, das ist die Strafe für all den Schmerz. So fühlt es sich an, ja, genau so, alles, was Sie mir angetan haben. Mir und allen anderen. Ja, es tut weh, nicht? Ich ließ den Blick über die Straße schweifen. Menschen, normale Menschen, blieben stehen und starrten sie mit entsetzten, besorgten Mienen an. »Jemand muss einen Krankenwagen rufen!«, hörte ich jemanden sagen. »Lasst sie leiden! Sie hat es verdient. Es geschieht ihr recht, wenn sie Schmerzen hat. Ihr braucht sie nicht zu bemitleiden!«, hätte ich am liebsten gerufen.
    Doch in diesem Augenblick wandte sie den Kopf, so dass ich ihr Gesicht sehen konnte. Auf ihren Zügen lag ein Ausdruck blanker Angst. Wie gebannt starrte ich sie an, während ich den Drang unterdrückte, mich aus dem Schatten zu lösen, die Hände zu heben und »Okay, okay! Ein bisschen noch, dann können wir aufhören. Es reicht jetzt allmählich! Sie hat ihre Lektion gelernt!« zu rufen.
    Doch als ich zusah, wie sie sich herumwarf, sich wälzte, sich übergab und unkontrolliert die Augen verdrehte, war das Gefühl des Triumphs plötzlich nicht mehr ganz so erhebend wie zuvor. »Okay, aufhören! Sie können aufhören! Es reicht jetzt!« Aber, nein, sie machte weiter und weiter, während ein schauerliches Heulen ertönte, von dem ich im ersten Moment nicht mitbekommen hatte, dass es aus ihrem Mund kam. O Gott! Es wurde mit jeder Sekunde unerträglicher!
    Ein Fremder war die Treppe heraufgelaufen und drehte Miss Fowler auf die Seite. Ihr Knoten hatte sich gelöst. So hatte ich sie noch nie gesehen. Ihr Haar war lang, gräulich schwarz und lag wie ein Fächer auf den weißen Stufen ausgebreitet. Keine Ahnung, was ich mir vorgestellt hatte – vielleicht, dass sie beim Zubettgehen den Dutt als Ganzes abnahm und der Rest ihres Haars straff zurückfrisiert auf ihrem Kopf blieb. Oder dass sie eine Glatze hatte, abends ihre Perücke abnahm und sie auf einen Modellkopf in der Ecke ihres Zimmers stülpte. Jedenfalls wäre ich nicht im Traum darauf gekommen, dass es sich in langen Locken auf die mit Erbrochenem besudelten Stufen ergießen könnte.
    Allmählich dämmerte mir das volle Ausmaß meiner abscheulichen Tat.
    »Wasser! Jemand soll ein Glas Wasser bringen!«, hörte ich jemanden rufen, woraufhin Mr   Mercer sich umwandte und mich am Portal stehen sah.
    »Los, beeil dich!«, sagte er. Ich wirbelte herum und stürzte durch die Kirche in die Sakristei. Da ich kein Glas entdecken konnte, schnappte ich eine Blumenvase und lief weiter zur Toilette, um sie unter den Wasserhahn zu halten, doch meine Hände zitterten so sehr, dass ich ihn nicht aufdrehen konnte. O Gott, o Gott, hör doch auf! Aufhören! Bitte, aufhören! Das reicht! Das reicht!
    Der Gestank des Erbrochenen auf meinem Kleid war so durchdringend, dass ich zu würgen begann. Ich hörte, wie ich nach Luft schnappte, während meine Zähne klapperten. Hilfe! So hilf mir doch jemand! Was habe ich getan? Ich komme ins Gefängnis. Ich komme ins Gefängnis!
    In der Ferne hörte ich Regina Coeli durch das Kirchenschiff hallen, dessen unverhohlene Freude in krassem

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