So sollst du schweigen: Roman (German Edition)
nie im Leben über die Organisation stellen. Unter keinen Umständen. Außerdem hatte sie mich noch nie »mein Liebling« genannt. Und hatte mich diese schreckliche Frau tatsächlich zu meiner Tat getrieben? Verdiente sie all das wirklich?
Ich beschloss, ohne Fahrkarte und Hausschlüssel zu fliehen.
Ich lief los. Vorbei an der stinkenden alten Pennerin, die in einem der pompösen Hauseingänge lebte. Normalerweise fragte sie mich stets nach einer Portion gekochter Kartoffeln mit einem Klecks Butter darauf, was eine ziemlich merkwürdige Bitte für jemanden war, der sich ohne jede Scham in die zerlumpten Kleider pinkelte. Doch heute sah sie mich vorbeilaufen und schrie »Schneller als die Polizei erlaubt!«
Ich rannte an der U-Bahnstation South Kensington vorbei und kam in eine Gegend, in der ich mich nicht auskannte: hohe Häuser, schwarz gestrichene Treppengeländer, sorgfältig gemähte Vorgärten. Irgendwann gelangte ich zu einem Friedhof, den ich durchquerte, vorbei an all den Toten, den Glückspilzen, die keine Gefahr für mich darstellten. Die blanke Panik trieb mich vorwärts. Ich begann im Flüsterton Selbstgespräche zu führen, im Takt mit meinen Schritten, als hätte ich vollends den Verstand verloren. »Ich hab sie umgebracht! Ich hab sie umgebracht!« Es war wie das reinste Meditationsmantra.
Als ich zur Themse kam, schlug meine Panik in eine Art Euphorie um. Langsam dämmerte mir, dass das Unmögliche geschehen war. Miss Fowler war nicht länger Teil meines Lebens! Ich war frei. Ein freies Lebewesen!
»Ja! Ja!«, schrie ich, während sich mein Körper auf einmal herrlich schwerelos anfühlte.
Mit neuer Energie bog ich am Fluss nach links ab. Ich war topfit und hatte Ausdauer und Kraft. Nichts konnte mich aufhalten. Absolut nichts. Ich entfernte mich weiter und weiter von der Organisation, von meinem alten Leben. Und ich blickte kein einziges Mal zurück.
Ich rannte am Parlamentsgebäude vorbei, an Big Ben, immer weiter an der Themse entlang, bis ich vor der Station Embankment stand.
Es erschien mir geradezu irrwitzig komisch, dass ich vor nicht einmal einem Monat um ein Haar mein Leben hier verloren hätte, und nun stand ich hier, quicklebendig und guter Dinge, und sie war diejenige, die ihre letzte Reise angetreten hatte. Allein die Vorstellung war beinahe überwältigend. Ich legte die Hände auf die Ziegelmauer, ließ den Kopf hängen und lachte wie eine Verrückte, heulte und japste, bis ich merkte, dass mich die Leute anstarrten. Ich musste mich beruhigen. Nachdenken. Denk nach! Was ist als Nächstes zu tun?
Als Erstes musste ich dieses stinkende Kleid mit den Resten von Miss Fowlers Mageninhalt loswerden. Ich folgte dem Menschenstrom bis zu The Strand, wo ich mich unauffällig unters Volk mischte. Ich hielt den Kopf gesenkt und wechselte jedes Mal die Straßenseite, wenn ich einen Polizisten erspähte. Schließlich schlüpfte ich in eine Seitenstraße und fand mich in Covent Garden wieder. Eine Menschentraube hatte sich um zwei Männer gebildet, die im Zeitlupentempo zu den Klängen von Chariots of Fire von Vangelis, dem Soundtrack von Die Stunde des Siegers , dahintrabten. Ich wertete es als gutes Zeichen, denn Die Stunde des Siegers war der einzige Film, den ich jemals gesehen hatte. Er wurde von der Organisation gutgeheißen, weil seine Botschaft lautet, Gott über alles zu stellen und sich zu weigern, an einem Sonntag einen Laufwettkampf zu bestreiten. Die Leute lachten, als die beiden Männer vorgaben, über eine fiktive Ziellinie zu laufen. Los, weiter. Immer weiter. Nicht stehen bleiben.
Ich war eine recht talentierte Ladendiebin. Megan und ich klauten schließlich ständig Süßigkeiten. Als Erstes brauchte ich eine dicke Plastiktüte in einer vernünftigen Größe. Ich kramte in einer Mülltonne herum und fand ohne Probleme etwas Geeignetes. Ich ging an der U-Bahnstation Covent Garden vorbei, bog auf die Long Acre und fragte mich, wohin ich als Nächstes gehen sollte. Da war er – der Heilige Gral aller Einkaufsparadiese. Die Flip-Filiale. Noch ein gutes Zeichen. Sarah Martins hatte eine Woche lang Böden schrubben müssen, weil sie einen Fuß in den Laden gesetzt hatte. Ich hatte keine Ahnung, wieso, bis ich selber hineinging. Es war eine amerikanische Ladenkette mit Klamotten im Stil der Fünfziger, Baseballjacken, Lederkluften und gut aussehenden Leuten, die die Songtexte der aus den Lautsprechern dröhnenden Popsongs nachsprechen konnten. Miss Fowler hätte den Laden
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