So still die Nacht
gestern Nacht meinen Ehemann verloren.«
»Nein, das hast du nicht.« Er machte einen Satz durch die Kutsche, um neben ihr Platz zu nehmen, so nah, dass sein Oberschenkel sich fest an ihren presste, durch Seide und Unterröcke hindurch. Sein Hut fiel zu Boden. Er hob die Hand, um ihr die Tränen wegzuwischen, damit sie völlig verschwanden.
»Nicht.« Sie entzog ihm das Gesicht und drückte ihn mit ihren schlanken Armen von sich, um dann den Platz einzunehmen, den er gerade freigemacht hatte. Ihre schwarzen Röcke glitten um ihre Beine wie ein dunkler Meerjungfrauenschwanz.
Er könnte alles beenden, könnte dafür sorgen, dass ihre gemeinsame Zeit genug war.
»Ich streite es nicht ab, Mina – ich habe dich umworben, um an deinen Vater heranzukommen. Aber ich habe mich dafür entschieden, dich zu heiraten«, beharrte er, zornig, dass sie ihm selbst in diesem engen Raum entglitten war. »Weil ich mit dir verheiratet sein will.«
»Aber ich will nicht mit dir verheiratet sein«, gab sie zurück, ihre Augen groß und glasig. »Nicht mehr.«
Mark spürte, wie seine Luftröhre eng wurde. Jahrhundertealte Erinnerungen fuhren ihm wie Krallen durch die Brust.
Sie flüsterte: »Ich will Kinder. Ich will einen Ehemann, mit dem ich alt werden kann. Ich will Grabsteine Seite an Seite mit der Aufschrift: ›Geliebte Ehefrau‹ und ›Geliebter Ehemann‹. Kannst du mir das geben, Mark? Du magst unsterblich sein, aber du kannst mir nicht die Ewigkeit geben. Nicht die Art von Ewigkeit, die ich will.«
Er sah sie an. Er konnte ihr Schutz geben. Wohlstand. Sinnliche Wonnen. Aber nein … er konnte ihr nicht die Art von Ewigkeit geben, von der sie sprach.
»Also, ja, Mark, verstehst du … ich habe tatsächlich gestern Nacht meinen Ehemann verloren.« Sie schlug ihre dunklen feuchten Wimpern nieder. »Und stattdessen habe ich jetzt dich.«
Stattdessen habe ich jetzt dich. Ihre Wortwahl verwundete ihn zutiefst. Marks Abwehr meldete sich als siedender Zorn in der Magengrube. Es war nicht das erste Mal in seinem Leben, dass man ihm sagte, er sei nicht wichtig genug, es sei der Mühe nicht wert, ihn zu lieben. Seine eigene Mutter hatte ihm den Tod vorgezogen, um mit ihrem Geliebten zusammen zu sein. Es hatte für ihn als zehnjährigen Jungen keinen Unterschied gemacht, dass der Mann sein Vater gewesen war. Er hatte seine unsterbliche Existenz damit verbracht zu versuchen, die Erinnerung und den Schmerz auszulöschen und Befriedigung in den Armen einer endlosen Reihe Frauen gefunden – Königinnen, Kurtisanen und berühmten Schönheiten –, aber immer, immer hatte er sie verlassen. Und stets mit kaltem Herzen, um zu beweisen, dass er derjenige war, der entschied fortzugehen. Er wollte verdammt sein, wenn er zuließ, dass Willomina Limpett, die Tochter eines Professors, ihm den Laufpass gab.
Mina beobachtete die Veränderung in seinem Gesicht, und zum ersten Mal machte er ihr ehrlich Angst. Die Sanftheit wich aus seinen Zügen. Die Haut über seinen Wangenknochen und dem Kinn straffte sich, seine Züge wurden hart. Seine Augen glitzerten himmelblau. Hatten ihre Worte ihn so tief getroffen? Konnte es möglich sein, dass ihm mehr an ihr lag, als sie ahnte? Wie sollte das zugehen, da sie für ihn nicht mehr sein konnte als ein Nebel im Verstreichen der Zeit?
Die Kutsche bog ab und beschrieb einen Halbkreis. Ihre Körper schwankten mit der Bewegung. Mina blinzelte die Feuchtigkeit in ihren Augen weg und schaute durch eine Ritze des Vorhangs, der das Fenster verdeckte. Sie war so auf ihren Streit konzentriert gewesen, dass sie nicht wusste, wo genau sie sich jetzt befanden, aber sie schienen irgendwo in der Nähe des Ufers zu sein, unweit des Embankments an der Themse.
Die Kutsche blieb auf dem schattigen Vorplatz eines turmhohen Gebäudes stehen, das unter Gerüsten und schweren Planen kaum kenntlich war. Graue Steine waren hin und wieder dahinter zu erkennen. Der parkähnliche Garten und die Gehwege waren neu angelegt, und es sah aus, als sei das erst kürzlich geschehen.
»Wo sind wir?«, fragte sie argwöhnisch und vermutete, dass das Gebäude verlassen sein würde. Aber genau in dem Moment kam ein Portier in makellosem schwarzen Anzug und mit Hut und Handschuhen aus dem Haupteingang.
»Im Savoy-Hotel«, antwortete Mark kühl. »Wir werden hier einige Tage bleiben, bis das Haus so weit fertig ist.«
»Du hast ein Haus?« Sie hatte geglaubt, die Thais sei sein einziges Quartier.
»Wir haben ein Haus.«
Ihr Herz krampfte
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