So unselig schön
Trauer, Wut und Fassungslosigkeit griff wieder nach ihr und zerrte sie zurück ins Bett. Sie zog die Decke über den Kopf und weinte weiter.
Clara war wie eine Mutter zu ihr. Diese Arschlöcher vom Kriseninterventionsteam, die da gestern am Bahnsteig plötzlich aufgetaucht waren wie Pilze aus dem Waldboden, doofe Sprüche labernd. Weinen Sie ruhig, lassen Sie Ihre Gefühle raus.
Weshalb hatte Jobst das getan? Sie kapierte es einfach nicht. Dühnfort hatte von einem Verdacht gesprochen. Jobst konnte doch unmöglich … niemals. Sie würde sich doch nicht in einen Mörder verlieben.
Die Decke wurde vorsichtig angehoben. Claras weißer Schopf erschien, ihre blauen Augen, die besorgt guckten. Es roch nach Essen. »Geht es besser?«
Vicki richtete sich auf, wollte ja sagen, krächzte jedoch ein Nein.
»Du musst etwas essen. Ich habe eine Hühnersuppe gekocht. Soll ich sie am Bett servieren, oder setzt du dich zu mir in die Küche?«
»Wieso bist du nicht im Reisebüro? Doch nicht meinetwegen?« Irgendwie fühlte Vicki sich schuldig.
»Ich habe Henriette überredet einzuspringen. Sie kann ihr Bein hochlegen. Für ein paar Stunden geht das schon. Du bist jetzt wichtiger. Also, kommst du in die Küche?«
Am liebsten hätte Vicki sich die Decke wieder über den Kopf gezogen und weitergeheult. Aber das ging ja nicht, bei all dem, was Clara für sie tat.
Sie schlüpfte in ihre Klamotten und folgte Clara in die Küche. Die Suppe roch eigentlich lecker, dennoch verursachte die Vorstellung, einen Löffel davon zu essen, Vicki Brechreiz.
Das Heulen einzustellen klappte irgendwie nicht. Sosehr Vicki sich auch bemühte, es gelang ihr nur für kurze Momente. Ständig gingen ihr Gedanken durch den Kopf, tauchten Bilder auf. Die Mohnblume. Das war so süß gewesen. Eigentlich. Scheiße. Dühnfort hatte es ihr doch erklärt. Attribut von Hypnos und Morpheus. Eine Mohnblume bedeutet Schlaf und Tod. Eine für dich. Eine für mich. Vicki schluckte. Warum hatte er ihr das angetan? Sie hatte gedacht, er mochte sie, und in Wirklichkeit … Er hatte genau gewusst, wo sie am verwundbarsten war, sie hatte ihm doch von Adrian erzählt, wie konnte er nur …
Die Tränen flossen wie die Gedanken unaufhörlich. Vicki schniefte, griff nach den Taschentüchern und sah zu Clara, die besorgt ihren Löffel an den Tellerrand gelegt hatte. »Soll ich nicht doch meine Freundin anrufen …«
»Später. Vielleicht«, krächzte Vicki. Möglicherweise war das doch keine so blöde Idee, jemanden mal den ganzen Müll ihres Lebens vor die Füße zu kotzen, vielleicht tat das gut.
»… oder meinen Hausarzt. Damit er dir etwas zur Beruhigung gibt?«
»Nee. Lieber nicht.« Vicki versuchte zu lächeln. »Ich will keine Pillen einwerfen wie meine Mutter. Das verstehst du doch.«
Clara zuckte mit den Schultern. Irgendwie wirkte sie übernächtigt, angestrengt und überfordert. Mit einem Mal tat sie Vicki leid, und gleichzeitig überrollte sie eine warme Welle der Zuneigung, die sofort wieder von Tränen weggespült wurde.
Das Handy in Vickis Hosentasche begann zu klingeln. Sie zerrte es heraus. Da sie die Nummer auf dem Display nicht kannte, drückte sie sie weg. Sekunden später begann es wieder zu klingeln. »Mann, das nervt.« Vicki drückte die Nummer wieder weg. Sie konnte jetzt nicht telefonieren. Als es erneut zu läuten begann, griff Clara nach dem Handy und meldete sich. »Clara Mohn.« Eine Weile hörte sie zu.
»Nein. Telefonterror ist ungefähr das … Ich habe Ihre Frau nicht … warten Sie mal einen Augenblick.« Clara legte die Hand über das Telefon. »Hast du gestern anonym eine Sabine Sauer angerufen?«
Ach du Scheiße. Vicki nickte und schüttelte gleichzeitig den Kopf. »Ich wollte doch ihn anrufen. Den Alexander. Der ist mein Vater.«
»Was ist der?«
»Mein Vater. Vielleicht.«
Clara warf ihr einen ebenso ungläubigen wie fragenden Blick zu und nahm dann die Hand vom Telefon. »Ist Ihr Vorname Alexander?«
Offenbar war er das, denn Clara fragte ihn, ob ihm der Name Senger etwas sage, und fixierte nach einem Augenblick Vicki. »Hieß deine Mutter Hermine?«
Vicki nickte.
»Ja. Das war ihr Name.« Claras Stirn glättete sich. »Gut«, erwiderte sie. »Der Anruf gestern kam von Ihrer Tochter, Vicki. Und ehrlich gesagt könnte die jetzt einen Vater gut gebrauchen.«
***
Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander auf der Bank unter der Trauerweide, und Dühnfort spürte, wie Werneggs Tante sich innerlich entfernte. Er
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