So unselig schön
überlegte, ob er seine Frage wiederholen sollte, weshalb Jobst bereits als Grundschüler in das Internat gesteckt worden war, als sie sich ihm zuwandte und zu sprechen begann.
Zwei Jahre nach dem Tod ihres ersten Mannes hatte Susanne wieder geheiratet. Claus-Peter Schwendt war Generalmajor der Luftwaffe. »Auch er war bedeutend älter als Susanne, wie Jesko, ihr erster Mann, und ein ebenso autoritärer Vatertyp. Jobst hat ihn nicht akzeptiert.« Ihr Blick wandte sich ab und ging über die Rasenfläche bis zu den Fenstern des Klinikums, während sie erzählte, wie sehr Jobst gegen den Stiefvater rebellierte, wie die schulischen Leistungen immer mehr nachließen und die Streitereien eskalierten. Damals hatte Stefanie ihrer Schwester den Vorschlag gemacht, Jobst für einige Zeit zu sich ins Internat zu holen. Anfangs fühlte er sich dort nicht wohl, integrierte sich dann aber schnell. Die als Überbrückung gedachte Lösung etablierte sich als Dauerzustand, der auch nicht endete, als Susannes zweiter Mann an Krebs starb und Jobst zunächst wieder nach Hause zurückkehren wollte. Mittlerweile hatte Susanne ihr Hilfsprojekt für Kinder in Afrika gegründet und pendelte zwischen München und Mombasa. Ein richtiges Zuhause gab es nicht. Wer hätte sich um den Dreizehnjährigen kümmern sollen? Also blieb Jobst bis zum Abitur im Internat.
Dühnfort fragte, wie Jobst dazu gestanden habe, dass seine Mutter sich um so viele Kinder kümmerte, nur nicht um ihr eigenes. Das muss ihn doch verletzt und gekränkt haben. Er erhielt eine ähnliche Antwort wie von Fuhrmann. Die Qualität zählte und nicht Quantität. Dühnfort blickte auf den Kies unter seinen Schuhspitzen. Hier kam er nicht weiter, seine Fragen prallten an einer glatten Oberfläche ab. Dieses Feld musste er später noch einmal beackern.
Eines gab es noch, das ihn interessierte. Weshalb hatte Wernegg versucht, ausgerechnet seinem besten Freund René die Morde unterzuschieben?
Stefanie Karg löste den Blick von der Klinik und wandte sich Dühnfort zu, sichtlich überrascht. »Hat er das?«
»Er hat falsche Spuren gelegt, die Fuhrmann ziemlich in Bedrängnis gebracht haben.«
Sie zog die Zigarettenpackung aus der Handtasche und zündete sich die vierte Zigarette an, oder war es schon die fünfte? Während sie diese rauchte, erklärte sie Dühnfort, dass René und Jobst zunächst keine Freunde gewesen waren. Ganz im Gegenteil.
Sie kannten sich seit der sechsten Klasse, als René ins Internat gekommen war. Im Gegensatz zu Jobst, der schon immer seinen eigenen Weg gegangen war und dem die Zugehörigkeit zu einer Gruppe nicht viel bedeutete, war René einer gewesen, der Stiefel leckte. Schnell hatte er sich einen Platz in der führenden Gruppe erdienert, stand Schmiere, wenn heimlich geraucht wurde, ließ sich sein Taschengeld für Alkohol abnehmen und gehörte zu denen, die noch zutraten, wenn der Gegner bereits am Boden lag. In Stefanie Kargs Worten schwang Verachtung für René Fuhrmann mit.
Und dennoch hatte René Jobst wegen seiner Unabhängigkeit bewundert und Kontakt zu ihm gesucht. »Zu Freunden, wenn man das so nennen kann, sind sie erst geworden, als Renés Mutter Jobst ab und zu einlud, die Ferien bei ihnen zu verbringen. Sie war so ein richtiges Familientier und konnte sich nicht vorstellen, dass er während der Ferien im Internat glücklich sei.«
Neid, dachte Dühnfort. Er war neidisch auf Renés Familie. Etwas wurde ihm vorenthalten, das der andere, den er eigentlich nicht mochte, im Überfluss besaß. Er muss es als demütigend und beschämend empfunden haben, dass René ihn, den Armen, großzügig an seinem Reichtum teilhaben ließ, und gleichzeitig gab ihm diese Familie etwas, das ihm fehlte. Er war der Bettler, der den gnädigen Wohltäter verachtete, dessen Gabe aber nicht ausschlagen konnte. Und nun hatte er sich gerächt.
Die Banklehne drückte in den Rücken, und Dühnfort beugte sich vor. Ein wenig Licht war ins Dunkel gekommen. Zu wenig. Er unternahm einen erneuten Versuch, eine Antwort auf die Frage zu finden, weshalb Wernegg zum Frauenmörder geworden war. Stefanie Karg schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Beim besten Willen.«
Er glaubte ihr nicht. Als sie sich vorher vergewissert hatte, ob Jobst wirklich der Täter war, hatte Dühnfort gespürt, dass sie den Grund kannte oder wenigstens ahnte.
Wir werden sehen, dachte er. Morgen ist auch noch ein Tag.
***
Er stand am Klinikparkplatz vor dem Parkautomaten und bezahlte, als ihn
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