So unselig schön
der Anruf von Susanne Henke erreichte. Sie hatte das Haus ausfindig gemacht, das Jobst Wernegg vor sechs Jahren gemietet hatte. »Es war kein Haus, sondern eine alte Mühle östlich von Düsseldorf. Im Juli 2004 ist sie abgebrannt.«
Dühnfort atmete durch. »An dem Wochenende, an dem Svenja verschwunden ist?«
»Genau.«
»Aber fünf Monate bevor man ihre Leiche fand.«
»Wernegg ist in unseren Ermittlungen nie aufgetaucht, ergo hat niemand einen Zusammenhang zwischen dem Mühlenbrand und Svenjas Verschwinden hergestellt.«
»Wie sieht es heute auf dem Gelände aus? Ich meine, wurde das Gebäude abgerissen und neu gebaut, oder steht da noch etwas?«
Er hörte ein zufriedenes Schnalzen durchs Telefon. »Im Moment arbeitet dort ein halbes Dutzend weiß vermummter Gestalten. Sie drehen jedes Steinchen der Ruine um, gucken unter jedes Unkrautblättlein. Ich rufe dich an, wenn wir etwas finden sollten. Und wenn nicht, dann auch.«
***
Stefanie Karg blieb auf der Bank sitzen, sah dem Kommissar nach, bis er in der Klinik verschwand, rauchte die Zigarette fertig und stand dann auf. Achtlos warf sie die Kippe auf den Boden, drückte den Rücken durch und kehrte zurück auf die Intensivstation zu Jobst.
Sie blickte aus dem Fenster auf den Hubschrauberlandeplatz. Daneben erstreckte sich eine Wiese, und dahinter Wald. Der schien sich unter den Wolken zu ducken, die eilig von Westen kommend über den Himmel zogen. Sie lehnte den Kopf gegen die Scheibe.
Warum hatte er das getan?
Weshalb fragte sie sich das, wenn die Antwort doch in ihr lag wie ein tonnenschwerer Stein? Hatte sie alles falsch gemacht? Es gut gemeint und doch versagt?
Das Beatmungsgerät verrichtete seine lebenserhaltende Arbeit in einem beruhigenden, einschläfernden Rhythmus, dem sie sich nicht entziehen konnte. Langsam ließ der Druck in ihrem Innersten ein wenig nach. Sie wandte sich um.
Grüne und gelbe Kurven und Ziffern leuchteten, bauten sich auf und ab, blinkten auf Überwachungsgeräten, die das Bett umstanden wie Mauern das Innere einer Festung. Aus verschiedenen Beuteln und Flaschen flossen Flüssigkeiten und schmerzstillende Medikamente in Jobsts Körper.
Sie griff nach seiner Hand, nach der einen, die ihm geblieben war, blickte auf die schlanken Finger, auf den Infusionszugang am Handrücken, der mit Leukoplast festgeklebt war, sah der farblosen Flüssigkeit dabei zu, wie sie durch den Schlauch in die Adern sickerte.
Sie hatte es nur gut gemeint, hatte ihn beschützt. Allerdings nicht nur ihn, sondern durch ihr Schweigen auch Susanne, ihre kleine Schwester.
Wie schwer wog der Anteil an Schuld, den sie trug?
Was hätte sie ihm denn sagen sollen?
Deine Mutter, die du so liebst und vergötterst, ist eine Rabenmutter, nicht besser als eine Prostituierte, die ihr schönes Gesicht, ihre betörende Figur an reiche Männer verkauft, indem sie sich von ihnen Eheringe an den Finger stecken lässt. Du interessierst sie nicht, du bist eine Last für sie und obendrein die atmende Erinnerung an eine bodenlose Entgleisung. Wobei Entgleisung ja wohl verharmlosend war.
Stefanie hielt seine Hand fester und strich mit dem Daumen über die Knöchel. »Das konnte ich dir nicht antun«, murmelte sie.
Natürlich war ihr aufgefallen, wie sehr er seine frühe Kindheit verklärte, an die er doch kaum noch Erinnerungen haben konnte. Er war acht Jahre alt gewesen, als sie ihn mitgenommen und so in Sicherheit gebracht hatte. Vor seiner eigenen Mutter, die Unaussprechliches …
Müde ließ sie seine Hand los, schob den Stuhl zurück, ging wieder zum Fenster und starrte auf das vorüberjagende Grau. Letztlich wusste sie es nicht mit Sicherheit. Sie hatten nie wieder darüber gesprochen. Genau genommen hatten sie nie darüber gesprochen. Susannes Schweigen, ihr Einverständnis, Jobst noch in der gleichen Woche ins Internat zu geben, sagten mehr als alle Worte.
Dieser Tag war zum Bruch im Leben des Jungen geworden. Danach hatte er Susanne kaum noch gesehen. Sie hatte ihn weggegeben und sich nicht weiter um ihn gekümmert. Ob aus Gleichgültigkeit oder Scham oder um sich selbst zu schützen und so ihn … Stefanie wusste es nicht, hatte nie gefragt.
Dieser Tag. Dieser unselige Tag. Jobst, der so unschuldig geplappert hatte, nicht ahnend, welche Ungeheuerlichkeit er offenbarte. Susanne, die erstarrte und dann zuschlug. Ein Schlag. Ein einziger. Jobst verstummte, schrie nicht, weder vor Schmerz noch vor Empörung oder Überraschung. Er schwieg aus
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