So unselig schön
dem aus?« Gina trat in das Zimmer.
»Ich habe so ziemlich alles gelesen, was es über ihn gibt. Das Buch da auch.« Er deutete auf den Band in Ginas Hand.
»Das trifft sich gut«, meinte Dühnfort. »Dann müssen wir das jetzt nicht machen. Kannst du uns das Wesentliche erzählen?«
»Habt ihr mit ihm zu tun?« Ferdinand bot ihnen mit einer Geste Platz auf seinem Sofa an. Doch darauf stapelten sich die Bücher.
»Er ist am Rande einer Ermittlung aufgetaucht.« Dühnfort wollte und durfte Unbeteiligten keine Informationen geben.
»Gehen wir zu mir«, sagte Gina. »Da ist Platz.«
Bis Dorothee zum Essen rief, erzählte Ferdinand ihnen Carnes Lebensgeschichte.
Bruno Lichtenberg war als einziges Kind seiner Eltern in einem Dorf im Bergischen Land aufgewachsen. Die Mutter eine farblose und unterwürfige Hausfrau, der Vater, Inhaber einer Metzgerei mit Filialen in den Nachbardörfern, ein sadistischer Tyrann, der Frau und Sohn beherrschte und ein regelrechtes Terrorregime führte. Seinem Wunsch entsprechend, sollte Bruno später den Betrieb übernehmen. Doch Bruno taten die Tiere leid, die der Vater schlachtete. Ihm graute vor dem Brüllen der Schweine und Rinder, wenn sie ins Schlachthaus geführt wurden, ihn ekelte der Blutgeruch, und er aß bereits im Alter von sechs Jahren weder Fleisch noch Wurst. »Das heißt, er wollte weder Fleisch noch Wurst essen«, erklärte Ferdinand. »Aber der Vater nötigte ihn dazu, stopfte es in ihn hinein, bis er sich erbrach, und zwang ihn dann, das Erbrochene zu essen. Bruno musste beim Schlachten zusehen und wurde, wenn er die Augen schloss oder sich die Ohren zuhielt, mit dem noch warmen Blut der gerade getöteten Tiere übergossen. Einmal legte der Vater ihn in eine Rinderhälfte und klappte die andere Hälfte darüber. Die Mutter, selbst Opfer dieses Despoten, hatte weder die Kraft, sich schützend vor ihr einziges Kind zu stellen, noch, sich von diesem Mann zu trennen. Bruno hat sie für diese Schwäche gehasst.« Ferdinand seufzte und fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Was für eine Familie. Später hat er seine Mutter mit seinen Vorwürfen in den Selbstmord getrieben. Sie hat sich auf dem Dachboden erhängt.«
»Wann später?«, fragte Dühnfort.
»Sehr viel später.« Ferdinand fuhr mit seinem Bericht fort. Dem Vater gelang es, den Widerstand des Jungen zu brechen. Bruno fügte sich, wurde zu einem willenlosen Wicht, wie er diesen Zustand später beschrieb. Er ordnete sich unter, tat alles, was der Vater wollte, begann als Sechzehnjähriger die Metzgerlehre, schloss sie ab und arbeitete im Betrieb des Vaters. Bis dann geschah, was Bruno später als den Beginn der Metamorphose bezeichnete, an deren Ende er Carne geworden war und dessen Ursache er bisher nicht erklärt hatte. Ein Psychologe deutete sie als verspätete, dafür umso heftiger einsetzende Pubertät und damit einhergehende Ablösung vom dominanten Vater.
Es begann etwa ein Jahr vor dessen Tod. Eines Tages geriet der Vater bei der Fleischbrätherstellung mit dem rechten Arm in den Fleischcutter. Mit viereinhalbtausend Umdrehungen pro Minute zerhäckselte das Messer den Arm des Metzgers und trennte die Schlagader durch. Innerhalb von Minuten war Hagen Lichtenberg, der sich zu diesem Zeitpunkt alleine in der Wurstküche aufhielt, verblutet. Eine Untersuchung ergab, dass das Gerät defekt war und daher die Schutzvorrichtung, die derartige Unfälle verhindern sollte, versagt hatte.
Bruno verkaufte die Metzgerei, verprasste den größten Teil des Geldes, fing an zu saufen und herumzuhuren. In einem Puff lernte er Thorben Maguhn kennen, einen Professor der Kunstakademie Düsseldorf, und begann daraufhin, sich sein Trauma von der Seele zu malen. Er war so begabt, dass Maguhn ihn, trotz fehlenden Abiturs, in seine Klasse aufnahm.
»Gruselgraus«, sagte Gina, als Ferdinand geendet hatte. »Kein Wunder, dass der so schräg drauf ist. Stand er in Verdacht, diesen Fleischhäcksler manipuliert zu haben?«
Ferdinand schüttelte den Kopf. »Der Vater war selbst schuld. Ein Geizhals sondergleichen. Er hat an der Wartung der Maschinen gespart. Das ist ihm zum Verhängnis geworden.«
»Aber Carne nennt Lichtenberg sich erst seit drei Jahren, da war er mit dem Studium doch längst fertig.«
»Damals war er noch immer der Wicht, der sich den Schmerz von der Seele malte. Anfangs waren das verschlüsselte Bilder, in denen er die schonungslose Wahrheit vor sich selbst versteckte. Erst mit dem ersten Schlachthauszyklus
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