So unselig schön
auf der Bruno Lichtenbergs Hof lag. Das Tor stand noch immer offen. Dühnfort parkte auf dem Stellplatz hinter einem silberfarbenen BMW . Gina stieg aus und ließ die Beifahrertür ins Schloss fallen.
An der Haustür hing ein Zettel. Bin im Atelier. Ein dicker schwarzer Pfeil wies nach links. Dühnfort und Gina folgten ihm bis zum ehemaligen Kuhstall, dessen Tür angelehnt war, und traten ein.
Das Erste, was Dühnfort auffiel, war die Höhe des Raums, aus dem die Zwischendecke entfernt worden war. Lediglich die tragenden Holzbalken erinnerten noch an sie und lenkten den Blick bis zum First in etwa acht Metern Höhe. Zwischen den Sparren in der nördlichen Dachhälfte spannten sich dicke Glasscheiben. An schönen Tagen ließen sie das Licht vermutlich weich in den weiß gestrichenen Raum fallen, der jetzt in trübes Zwielicht getaucht war. In der Luft lag ein Geruch nach Terpentin, Ölfarbe und Malmittel; links von Dühnfort lehnte ein überdimensionales Gemälde an der Wand. Die dominierenden Farben waren Blutrot, Schwarz und Weiß in verschiedensten Abstufungen. Das Bild war in groben Strichen gemalt, die wie rasend auf die Leinwand geworfen wirkten und den aufgebrochenen Körper einer geschlachteten Kuh darstellten. Kopfüber hing er an Ketten von der Decke, der Bauchraum ausgeweidet. Weiße Rippen, rotes Fleisch, helle Sehnen, eine Lache Blut auf dem Boden, in der etwas lag. Dühnfort erschauerte, als er erkannte, was es war: ein nacktes Kind, das dem Betrachter den Rücken zuwandte und über und über mit Blut besudelt war.
Gina stöhnte leise. »Ich glaub es nicht.«
Von irgendwoher drang ein Geräusch. Dühnfort sah sich um. Es herrschte ein ziemliches Chaos im Raum. Drei Staffeleien mit ähnlichen Schlachthausgemälden in unterschiedlichen Vollendungsstadien. Tische, auf denen Farbtuben, Dosen, Pinsel, Blöcke, Stifte, Kreiden und Skizzen lagen. Zwei Sofas und zwei Sessel, deren brüchig gewordene Bezüge von buntgemusterten, afrikanisch anmutenden Stoffen nur teilweise verdeckt wurden, ein Metallregal voller Leinwandrollen, Keilrahmenholz, noch mehr Farbtuben und Pinsel, Dosen, Flaschen, Eimer, Papiere und Mappen. Ein alter Bauernschrank, dessen Türen offen standen und den Blick auf ein Sortiment von Flaschen freigaben, eine beeindruckende Spirituosensammlung. Daneben ein Holzgestell, über das Stoffbahnen geworfen worden waren. Rote, mit Goldfäden durchwirkte Seide, vermutlich ein indischer Sari. Von dort kam das Geräusch; es klang wie ein trockenes Lachen. Ein Bär von einem Mann trat aus dem Schatten.
»Sie reagieren wie beinahe alle. Wohliges Gruseln, voyeuristisches Erschauern, Sie möchten den Blick abwenden und können es nicht.« Die Stimme klang heiser. Dühnfort dachte an den Wolf, der Kreide gefressen hat.
»Herr Lichtenberg?«
»Lichtenberg ist tot«, erwiderte der Mann. Er wog sicher über hundert Kilo, an seinem Körper war jedoch kein Gramm Fett zu viel. Ein wuchtiger Schädel saß auf einem gedrungenen Hals. Dunkle Augen, gebräunte Haut, das Lächeln eines Satyrs. Ein schwarzes T-Shirt spannte über einem Brustkasten, der diese Bezeichnung verdiente. Gut definierte Muskeln zeichneten sich durch den Stoff ab. Über die Oberarme, so dick wie Kolben einer Dampflokomotive, zogen sich tätowierte Dornenkränze. Die schwarze Hose war mit Farbflecken übersät. Die Füße steckten nackt in Sandalen. »Ich habe ihn umgebracht, diesen armseligen Wicht, diesen Kriecher. Es lebe Carne!« Der Mann breitete die Arme aus wie der gekreuzigte Heiland.
Für einen Moment raubte diese geballte Präsenz Dühnfort die Sprache. Gina nicht. »Ein Selbstmord mit anschließender Reinkarnation … wow. Wie fühlt es sich an, Gott zu spielen, Herr Lichtenberg?«
Der Maler lachte schallend, wies auf die Sofas und ließ sich auf eines fallen. Sein Heiterkeitsausbruch verebbte. »Carne. Nennen Sie mich so. Das ist mein Name. Bruno lebt nicht mehr.«
Während er sich setzte, fing Dühnfort Ginas Blick auf, der fragte: Darf ich weitermachen? Er nickte kaum merklich.
»Und wie ist es nun?« Ginas ganze Aufmerksamkeit war jetzt auf den Maler gerichtet.
»Es ist ein durchaus angenehmes Gefühl, im eigenen Leben die Regie zu führen.«
»Alles im Griff und unter Kontrolle zu haben. Meinen Sie das?«
Dühnforts Blick fiel auf eine Schale mit Erdbeeren, die zwischen all den Malutensilien fehl am Platz wirkte. »Greifen Sie zu. Das ist eigene Ernte«, sagte Carne, der den Blick bemerkt hatte. Mit einer ausholenden
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