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So unselig schön

So unselig schön

Titel: So unselig schön Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Löhnig
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kam die innere Befreiung. Zu diesem Zeitpunkt begann auch seine äußere Veränderung durch Bodybuilding. Bis dahin war er ein Hänfling gewesen, ein blasser, hoch aufgeschossener Kerl, der niemandem in die Augen sehen konnte. Dann wurde er zu Carne.«
    Dühnfort war der Ausbreitung dieses Alptraums von einem Leben gefolgt und spürte nun dem Unbehagen nach, das in ihm aufstieg. Ein Mensch, der sich selbst neu erfand. Aber worauf konnte er aufbauen, wenn alles, was er erfahren hatte, Misshandlung, Verachtung, sadistische Quälerei waren?
    Er verstand Wut und Schmerz, die Carne in seinen Bildern Gestalt annehmen ließ, sah ihn vor sich, wie er rasend, wie in Trance, mit wuchtigen Strichen Farbe auf die Leinwand warf, schmierte, spachtelte, kratzte und so versuchte, sich selbst zu heilen; er sah all die Erbitterung und Qual in diese Bilder fließen und fragte sich, ob die Malerei alleine dafür ausreichte.
    ***
    »Ganz schön clever«, sagte Kai schmunzelnd. »Wie ist dein Freund eigentlich an die Pläne gekommen?« Er saß an Vickis Tisch neben dem Terrarium und blickte von den Kopien auf, über die er sich gebeugt hatte. Der Verband am linken Zeigefinger leuchtete weiß. Unter der schwarzen Strickmütze, die er scheinbar nie abnahm, ringelten sich brünette Locken. Seine dunklen Augen sahen Vicki interessiert an.
    Sie hatte ihm gerade gezeigt, wo sie damals in die Kanalisation eingestiegen waren: in einer Seitenstraße der Rue de Rivoli nahe der Metro-Station Saint-Paul. Irgendwoher hatte Adrian Absperrgitter und zwei Overalls der Stadtreinigung Proprieté de Paris besorgt. Mit dieser Tarnung hatten sie einen Gullydeckel gesichert und angehoben und waren dann in die Kanalisation eingestiegen. Es war Vickis erster Ausflug als Urban Explorer gewesen, und eigentlich hatte sie ganz schön Schiss gehabt. Davor, erwischt zu werden, vor den Ratten, dem Gestank, der Dunkelheit und wer weiß noch was. Aber mit Adrian an ihrer Seite …
    »Er hat sie in einem Archiv aufgestöbert und kopiert«, sagte Vicki. »Adrian war Erasmusstudent. Philosophie und französische Literatur. Mit seinem Studentenausweis ist er in beinahe alle Bibliotheken und Archive gekommen.«
    »Die Pläne kann ich wirklich haben?«
    »Klar.«
    Kai nahm die Papierbogen vom Tisch, rollte sie zusammen und steckte sie zurück in die Papprolle. »Du bekommst sie heil wieder. Und: Danke.« Mit einem Mal blitzten seine Augen auf. »Magst du nicht mitkommen? Mitte August. Bis jetzt sind wir zu dritt. Günti, Heike und ich. Zu viert macht es bestimmt noch mehr Spaß, und außerdem kennst du dich in Paris aus.« Abwartend sah er sie an.
    »Nee. Lieber nicht. Ich hab im September Zwischenprüfung und muss lernen. Außerdem habe ich keine Kohle für Urlaub. Und niemanden, der Epiktet hütet.« Sie wies auf das Terrarium. Lauter faule Ausreden. Wenn sie wollte, ginge das schon irgendwie. Aber Paris war für sie noch immer mit Adrian verbunden. Sie war noch nicht so weit, wieder durch die Straßen zu laufen, durch die sie mit ihm gelaufen war, die Bistros und Cafés zu besuchen, die sie mit ihm besucht hatte, und schon gar nicht, in die Kanalisation zu klettern und zu fotografieren.
    »Schade.« Kai steckte den Plastikdeckel auf die Rolle, schob sie in seinen Rucksack und stand auf. »Vielleicht überlegst du es dir ja noch mal. Um deine Schildkröte würde sich bestimmt meine Mutter kümmern. Sie liebt Tiere. Und kohlemäßig … könnten dir deine Eltern nicht einen Zuschuss geben?«
    »Nee. Ist nicht drin. Aber danke fürs Angebot.«
    Kai schulterte den Rucksack. Zögernd blieb er stehen und musterte sie.
    »Ist noch was?«, fragte Vicki.
    »Eigentlich wollte ich dich nicht darauf ansprechen. Aber jetzt tue ich es doch.« Beinahe trotzig schob er die Hände in die Hosentaschen. »Vor ein paar Tagen stand auf SZ -online ein Artikel über einen Mord an einer Frau. Du weißt schon, die, die enthauptet wurde. Jemand hat sie in der alten Brauerei gefunden, von der ich dir mal erzählt habe. Eine junge Frau, die dort fotografierte, hieß es in dem Artikel. Warst du das?«
    »Shit happens.« Vicki zuckte mit den Schultern. »Ich meine, das ist ein Risiko bei unserem Hobby, oder nicht?«
    »Na. Ich weiß nicht.« Kai zog die Stirne kraus. »Kommst du damit klar?«
    »Geht schon.«
    »Die Aufnahme, die du mir gemailt hast … die hast du doch dort gemacht.«
    »Wo sonst?« Vicki ahnte, worauf das hinauslaufen würde. Und prompt fragte er, weshalb sie ihn gebeten habe, diesen

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