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So weit der Wind uns trägt

So weit der Wind uns trägt

Titel: So weit der Wind uns trägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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auch nicht wieder hin. Außer, wir bekommen einen neuen Lehrer. Der Cabral ist nämlich strohdumm.«
    Laura musste an sich halten, um Ricardo nicht zu ohrfeigen und die ganze Geschichte aus ihm herauszuschütteln. Sie nickte ihm zu und gab ihm zu verstehen, er möge weiterreden. Und dann, während er ihr ohne jedes Schuldempfinden das Ausmaß seiner Durchtriebenheit schilderte, gelang es ihr nur unter Aufbringung ihrer gesamten Willenskraft, einen halbwegs nüchternen Gesichtsausdruck aufzusetzen. Drei Monate war er nicht in die Schule gegangen! Er hatte den Lehrer und den Rektor beleidigt, hatte gelogen, Unterschriften gefälscht und sie alle hinters Licht geführt. Es war absolut unglaublich. Es war eine Katastrophe. Ihr Sohn schlitterte sehenden Auges in ein Schicksal als Krimineller ohne Schulabschluss.
    Oh nein! Nicht ihr Kleiner. Sie, Laura da Costa, würde jetzt auf der Stelle ihre Leinwände und ihren Felipe und alles andere auf der Welt vernachlässigen und aufholen, was sie in den letzten Jahren versäumt hatte. Notfalls mit Gewalt. Wie hatte sie so naiv sein können, zu glauben, ihre verkalkte Tante Mariana oder ihre mit sich selbst beschäftigte Cousine würden sich um Ricardo kümmern? Ein Junge wie er brauchte besondere Zuwendung und Förderung, die nur sie ihm hätte geben können. Die Tatsache, dass er drei Monate lang hatte herumlungern können, ohne dass sein Täuschungsmanöver aufgeflogen war, bewies ja hinlänglich, welche überragenden Geistesgaben er besaß. Er musste nur lernen, sie richtig einzusetzen. Himmel noch mal!
    »Zeig mir zuallererst einmal diese Mathematikaufgabe. Weißt du, wie das aussähe, wenn du vielleicht nicht im Recht wärst?«
    »Tja, das sähe blöd aus. Ich bin aber im Recht.«
    Und wirklich: Nachdem Ricardo darauf bestanden hatte, dass sie ihm die Aufgabe vorrechnete und sie auf 135 als Lösung gekommen war, lachte er freudlos auf.
    »Bei Cabral kam 125 raus.«
    »Mein Gott, Ricardo, jedem kann mal ein Flüchtigkeitsfehler unterlaufen.«
    »Warum hat er es dann nicht zugegeben?«
    »Weil er nicht vor der ganzen Klasse bloßgestellt werden wollte. Du hast deine Kritik viel zu undiplomatisch geäußert.«
    »Siehst du, du hältst doch wieder zu ihnen.«
    Laura legte den Arm um Ricardo, doch er entwand sich ihr. »Hör mal, Kleiner: Ich halte zu dir. Immer. Ich versuche dir nur zu erklären, dass man mit Frontalangriffen oft nicht so weit kommt wie mit List und Tücke.«
    »Ich will nicht, dass du mich ›Kleiner‹ nennst. Ich bin schon neun!«
    »Herrje, lenk doch nicht vom Thema ab! Also gut, mein Großer, Lektion eins: Keine Respektsperson offen angreifen. Verstanden?«
    Er nickte trotzig.
    »Lektion zwei: Lügen und Betrügen ist verboten! Wenn du noch einmal so eine Nummer abziehst, werde ich richtig rabiat, verstanden?«
    Wieder nickte er.
    »Und schließlich Lektion drei: Du wirst nicht sitzenbleiben. Du tust ab sofort alles, was ich dir sage, ohne Widerrede, und dann fresse ich einen Besen, wenn sie dich nicht versetzen. Verstanden?«
    Ricardo schaute sie unglücklich an. Ihm schwante bereits, was das zu bedeuten hatte. Er würde sich bei Cabral und beim Rektor entschuldigen müssen. Seine Mutter würde katzbuckeln und auf Knien darum betteln, dass man eine Ausnahme für ihn machte und ihn die Klassenarbeiten nachschreiben ließ. Vielleicht würde sie dafür sogar die Geschichte von seiner »Krankheit« stützen, die er nach den ersten Tagen in Freiheit erfunden hatte und die er mit »echten« Attesten eines Spezialisten aus Lissabon belegt hatte – bei Bescheinigungen des örtlichen Arztes wäre ihm das zu heikel erschienen. Ricardo war selber überrascht, wie einfach es gewesen war, alle zu täuschen. Er würde sich in den verbleibenden zwei Wochen bis Ferienbeginn mit nichts anderem beschäftigen können als mit dem Aufholen des Stoffes in den Fächern, die er nicht mochte – in den anderen würde er auch so bestehen. Er würde seine Flugexperimente auf Eis legen müssen, und das ausgerechnet jetzt, da er einen entscheidenden Fortschritt erzielt hatte und seine Apparate schnurgerade flogen.
    »Nein«, sagte er.
    »Wie – nein? Soll das heißen, du hast es nicht verstanden? Das nehme ich dir nicht ab, Ricardo da Costa. Darf ich es dem Herrn noch einmal genauer erklären?«
    »Ich habe schon verstanden. Aber ich mache das nicht.«
    »Doch, das tust du. Und wenn ich dich hier einsperren muss.«
    »Probier es.«
    »Das werde ich, verlass dich drauf. Und ich

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