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So weit der Wind uns trägt

So weit der Wind uns trägt

Titel: So weit der Wind uns trägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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dergleichen. Er schwieg und starrte dem Lehrer herausfordernd in die Augen.
    »Na, los schon, sonst ziehe ich dir die Hammelbeine lang.«
    Ricardo schwieg. In seinen Augen las der Lehrer Trotz. Und Anmaßung.
    »Na schön, dann gibt es einen Eintrag ins Klassenbuch. Dein vierter für diese Woche, wenn ich mich nicht täusche. Noch so ein Vorfall, und du fliegst.«
    Um Ricardos Mundwinkel zuckte es verdächtig.
    »Was, du findest das zum Lachen?« Cabral war empört über eine solche Reaktion. Betretenes Senken des Kopfes, verzweifeltes Studieren der plumpen, ungeputzten Schuhe oder leises Schluchzen – das alles kannte er. Aber dass ihm ein Kind mit so einem verächtlichen Blick begegnete, das hatte er noch nie erlebt.
    Ricardo fand die Situation tatsächlich amüsant. Zum einen dachte er daran, wie gern er fliegen würde – leider war auch der Lehrer Cabral nicht in der Lage, die physikalischen Gegebenheiten, die dies verhinderten, aufzuheben. Dass er
von der Schule flog
, ja, das mochte Cabral vielleicht anstreben. Aber auch das würde diesem Dummkopf nicht gelingen. Weil er, Ricardo da Costa, nämlich recht hatte. Wenn der Fall irgendeiner Behörde vorgetragen würde, dann konnte er beweisen, dass der Dorfschullehrer unfähig und ungerecht und daher der Einzige war, der gehen musste.
    Abgesehen davon war es Ricardo vollkommen egal, ob er der Schule verwiesen wurde oder nicht. Schule war in Ordnung – es gab ein paar Kinder hier, mit denen er sich angefreundet hatte. Manche bewunderten ihn für seine Aufmüpfigkeit, das gefiel Ricardo. Aber ansonsten mochte er die Schule nicht: Die Stunden in Portugiesisch, Religion und Geschichte fand er öde, und in Mathematik sowie den Naturwissenschaften lernte er hier nichts, was er nicht schon wusste.
    »Mir reißt gleich der Geduldsfaden«, fuhr der Lehrer ihn an.
    »Mir auch«, erwiderte Ricardo.
    »So, jetzt reicht es. Wir gehen jetzt gemeinsam zum Rektor.« Zur Klasse gewandt sagte er: »Bis ich zurück bin, habt ihr die Aufgabe auf Seite 22 gelöst. Pereira, du passt auf, dass hier Ruhe herrscht.«
    Pereira tat natürlich nichts dergleichen. Als Cabral zurückkam, hörte er schon von weitem das Gejohle im Klassenzimmer. Und als er den Raum betrat, woraufhin totale Stille eintrat, entdeckte er zu seiner großen Beschämung eine Zeichnung auf der Tafel, die ihn als armes Würstchen und Ricardo als genialen Kopf darstellte. Tja, dachte Cabral resigniert, wenigstens gibt es irgendeinen in dieser Klasse, der ein gewisses künstlerisches Talent besaß. Er wischte die Kreide-Schmiererei selber von der Tafel – wäre er im Vollbesitz seiner geistigen, moralischen und pädagogischen Stärke gewesen, hätte einer der Jungen dies tun müssen – und nahm das Lehrbuch zur Hand. Er hatte keine Energie mehr, sich den Übeltäter vorzuknöpfen.
    »Almeida – komm nach vorn und rechne uns Aufgabe 22 vor.«
     
    Ricardo war wütend. Er war so wütend, dass er auf seinem Nachhauseweg jeden Stein, jeden Zweig und jeden Grashalm, der ihm in die Quere kam, mit Fußtritten traktierte. Er war so
unglaublich
wütend, dass er den Inhalt seines Schulranzens in hohem Bogen auf die Kuhweide von Bauer Lima warf. Sein Mathebuch landete genau in einem Kuhfladen. Da gehörte es ja auch hin. Nach wenigen Metern schleuderte er den nunmehr leeren Ranzen ebenfalls über einen Zaun. Ein paar Schweine stoben quietschend auseinander und wirbelten die staubige Erde auf. Sollte der Staub ruhig auf seinem Ranzen landen – den würde er sowieso nie wieder brauchen.
    Der Rektor hatte sich nicht einmal anhören wollen, was er, Ricardo, zu sagen hatte. Dass die Autorität eines Lehrers in Frage gestellt wurde, war anscheinend ein größeres Vergehen, als einer ganzen Klasse mit 23 Jungen lauter Unsinn beizubringen. Das war es, was Ricardo so maßlos ärgerte, und nicht etwa der Umstand, dass er für die nächsten drei Tage vom Schulunterricht befreit war, was seiner Meinung nach ohnehin mehr einer Belohnung als einer Strafe gleichkam.
    Zu Hause würde man ihm ebenfalls kein Gehör schenken. Seine Mutter hatte kaum noch Zeit für ihn, seit sie andauernd zu irgendwelchen politischen Versammlungen rannte. Das heißt, wenn sie nicht gerade in Évora bei ihrem »Verlobten« weilte. Oma Mariana, die ihm vielleicht geglaubt hätte, war nicht mehr ganz richtig im Kopf. Sie verwechselte alle Namen, wiederholte sich pausenlos, stierte manchmal geistesabwesend vor sich hin, um dann wieder ihren kleinen

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