So weit der Wind uns trägt
entjungfern. Aber heute? Einmal in der Woche kam eine bärtige Witwe aus dem Dorf zu ihnen hinaus, um Tante Octávia im Haushalt zu helfen, und von dieser Frau wollte Ricardo ganz gewiss nicht in die Kunst des Liebesspiels eingewiesen werden. Er schüttelte sich beim Gedanken daran, was sich unter ihrem altmodischen schwarzen Kleid befinden mochte, und zwang sich dazu, an etwas ganz anderes zu denken. Und die nächstbeste Sache nach Sex – wenn der denn die beste Sache der Welt war, wie die Jungs behaupteten – war Technik.
Ricardo liebte es, an Motoren herumzubasteln. Der Geruch von Schmieröl, Gummi und heißem Metall versetzte ihn in einen Rausch, wie es kein alkoholisches Getränk je vermocht hätte. Keiner Herausforderung konnte er so wenig widerstehen wie der, ein angeblich fahruntüchtiges Auto wieder in Schuss zu bringen oder einen defekten Kühlschrank zu reparieren. Über einem kaputten Radio oder einem alten Telefonapparat konnte er die Zeit vergessen, die ihm hier in diesem verdammten Kuhkaff manchmal ganz schön lang wurde. Ein Gefühl tiefster Zufriedenheit jedoch überkam ihn vor allem beim Anblick seiner Hände, wenn sie schwarz von Öl und Ruß waren. Stark, zupackend und schmutzig waren sie – richtige Männerhände. Und noch dazu völlig pickelfrei.
Ricardo hörte Schritte von nebenan. Schnell schlug er das Lexikon zu und stellte es wieder an seinen Platz.
»Du bist irgendwie unheimlich, weißt du das?« Seine Tante Octávia stand plötzlich neben ihm, wischte sich die Hände an ihrer Schürze trocken und sah ihn unverwandt an. »Immer findet man dich an Orten, wo du gar nichts verloren hast.«
»Das weißt du doch gar nicht.«
»Wie?«
»Du kannst doch gar nicht wissen, ob ich hier nicht doch irgendetwas verloren habe.«
»Deine Spitzfindigkeiten sind auch unheimlich. Ach, egal.« Sie machte auf dem Absatz kehrt, doch kurz bevor sie den Raum verließ, fiel ihr noch etwas ein. »Versau bloß nicht Onkel Inácios Bücher mit deinen verdreckten Fingern.«
Zurück blieb ein verständnislos dreinblickender Ricardo. Erstens: Was hatte sie hier gewollt? Zweitens: Wie hatte sie es so schnell vergessen können? Drittens: Wie konnte eine normale erwachsene Frau ihm gegenüber ihren Ehemann als »Onkel Inácio« bezeichnen? Dafür war Ricardo wirklich zu alt, und streng genommen handelte es sich noch nicht einmal um seinen richtigen Onkel. Octávia war die Cousine seiner Mutter, was sie zu seiner Großcousine – oder Großtante? – machte. Und damit wäre ja wohl Inácio höchstens sein Schwipp-Großcousin – oder wie nannte man diesen Verwandtschaftsgrad? Ungeachtet seiner ziemlich unsauberen Hände nahm Ricardo ein Buch aus dem Regal, diesmal ein Konversationslexikon, um dieser Frage auf den Grund zu gehen.
Beim Mittagessen betrachtete er alle am Tisch und versuchte ihnen die korrekten Bezeichnungen zuzuordnen. Die einzige Person, bei der es nun wirklich nicht den geringsten Zweifel gab, in welchem verwandtschaftlichen Verhältnis sie zu ihm stand, nämlich seine Mutter, war nicht da. Auch Felipe – der, wie Ricardo dachte, sein Stiefvater hätte sein können, wenn er und Laura denn jemals geheiratet hätten – war nicht anwesend. Dafür aber saßen am Tisch: Seine
Großtante
Mariana; seine
Großcousine
bzw.
Tante zweiten Grades
Octávia sowie deren Kinder, die Ricardo nun als
Cousin und Cousine zweiten Grades
zu definieren wusste. Einzig hinter die exakte Bezeichnung für Inácio war er noch nicht gekommen, aber vielleicht würde er sich beim nächsten Besuch der Stadtbücherei in Beja einmal damit befassen. So wichtig war es ja nun auch wieder nicht. Jedenfalls weniger wichtig als die Frage, warum er mit seinen direkteren Verwandten so wenig zu schaffen hatte. Mit seinem Vater, seiner Großmutter Jujú, seinem Großvater Rui, seinem Onkel Paulo sowie dessen Frau und Söhnen, Ricardos Cousins
ersten Grades
.
»Warum starrst du mich so an?«, fragte Sílvia, seine
Cousine zweiten Grades
. »Das ist hochgradig unhöflich.«
»Zweitgradig«, murmelte Ricardo und widmete sich wieder dem lauwarmen
caldo verde
. Er lehnte mit den Ellbogen auf dem Tisch und brauchte kaum den Löffel zu heben, da sein Gesicht dicht über dem Suppenteller hing.
»Spinner!«, keifte Sílvia. »Selber zweitklassig.«
Ricardo enthielt sich eines weiteren Kommentars. Sílvia wusste genau, wo sie ihn am besten treffen konnte. Dass er nicht wirklich Teil dieser Familie war, eigentlich Teil gar
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