So weit der Wind uns trägt
werde dafür sorgen, dass weit und breit kein Schnipsel Papier oder sonst irgendein Gegenstand ist, der sich zum Bau von Flugzeugen verwenden lässt. Du hast bis heute Abend Zeit zum Nachdenken.«
Laura stand auf und verließ den Raum. Keine Sekunde länger hätte sie das ausgehalten, ohne zu heulen, zu schreien oder den Jungen zu verprügeln. Ricardo starrte ihr mit aufsässigem Blick nach. Sie würde ja sehen, was sie davon hatte. Eine Minute später stand auch er auf und ging in sein Zimmer. Er schloss sich ein und kramte die Briefe von Jack hervor, die er schon so oft gelesen hatte, dass das Papier ganz weich und pelzig geworden war. Er hatte ihm nie geantwortet, hatte sich immer geweigert, Jack als seinen Vater zu betrachten. Aber jetzt, fand Ricardo, war es an der Zeit, dass er sich an ihn wendete.
In einem seiner letzten Briefe hatte Jack geschrieben, dass der Soundtrack von
Showdown in Manhattan
, den er komponiert hatte, für den Oscar nominiert war. Was bedeutete Soundtrack, was Showdown? Vielleicht sollte er doch wieder zur Schule gehen? Ach was, da würde er das auch nicht lernen. Latein oder Französisch standen für ältere Jungen auf dem Lehrplan, aber kein Englisch. Dann griff Ricardo wieder zu den Fotos von Jack und schwankte in seiner Entscheidung. Der Mann war ihm völlig fremd. Er sah auch nicht aus, als hätte er Verständnis für seine, Ricardos, Lage. Wahrscheinlich würde er sogar zu viel drakonischeren Strafen greifen als seine Mutter. Nein, vielleicht sollte er doch lieber wieder Abstand von dem Plan nehmen.
Ricardo legte die Briefe und die Fotos an ihren Platz zurück. Er nahm stattdessen einen seiner selbst gebauten Flugapparate in die Hand und war stolz auf seine Leistung, die bisher noch nie irgendjemand außer ihm selbst gewürdigt hatte. Alle taten das als Kinderkram ab, dabei war er über dieses Stadium lange hinaus. Richtig raffinierte Kampfflieger hatte er produziert, mit spitzen Aufsätzen an der Nase und gezackten Rändern an den Tragflächen. Es war allerhöchste Zeit, dass er diese prachtvollen Flieger einmal zum Einsatz brachte und nicht immer nur auf Enten damit zielte. Und wenn seine Mutter Ernst machte, wenn sie ihn wirklich einsperrte, was Ricardo nicht glaubte, dann wäre jetzt der geeignete Zeitpunkt, seine Flugapparate im echten Einsatz zu testen.
Er nahm sich den martialischsten seiner Flieger und huschte unauffällig aus dem Haus. Der Weg nach Beja erschien ihm jetzt, nachdem er jeden Tag unzählige Kilometer zu Fuß gegangen war, viel kürzer als noch vor drei Monaten. Kaum dass er in der Stadt angekommen war, entdeckte er auch schon ein paar geeignete Opfer. Ricardo versteckte sich hinter dem Stamm einer Platane und beobachtete den Feind eine Weile, bevor er sich von den alten Knackern, die im Schatten auf einer Bank saßen, einen aussuchte. Der Schielopa hatte es ihm besonders angetan – das nach innen verdrehte Auge war besser als der Mittelpunkt jeder Zielscheibe.
Dann warf er.
Schielauge João sprang auf wie von der Tarantel gestochen. Das Spielflugzeug hatte ihn direkt unterhalb des schlimmen Auges getroffen und dort einen hässlichen roten Punkt hinterlassen, von dem er selber in diesem Augenblick natürlich nichts wusste. Er wusste hingegen, dass die Stelle höllisch brannte. Er sah einen Jungen davonrennen, der sich, als er sich in sicherer Entfernung wähnte, zu seinem Opfer umdrehte. Ein Sonnenstrahl fiel direkt in seine Augen, die grüne Funken zu sprühen schienen.
»Du Teufel!«, schrie Schielauge João. Er fuchtelte erbost mit seinem Stock vor sich herum, als handele es sich dabei um einen Degen. »Aber wart’s ab, Abrantes, dich werden sie auch noch drankriegen!«
Er ahnte nicht, wie rasch sich seine Prophezeiung bewahrheiten sollte. Ricardo wurde am Abend desselben Tages von seiner Mutter zu einem zweiwöchigen Stubenarrest verdonnert, mit der Auflage, sämtliche Schulbücher durchzuarbeiten, die sie alle noch einmal hatte kaufen müssen. Jeden Abend fragte sie den Stoff ab, und während Ricardo sich in der ersten Woche seiner Gefangenschaft noch störrisch gegeben hatte, so beschäftigte er sich in der zweiten Woche mit nichts anderem als damit, eine der Lektionen seiner Mutter in die Tat umzusetzen: »Keine Respektspersonen offen angreifen«. Sie hatte es ja selber gesagt. Mit List und Tücke kam man weiter als mit Frontalangriffen. Komisch daran erschien ihm nur, dass sie recht zu behalten schien.
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1957 – 1964
35
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