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So weit der Wind uns trägt

So weit der Wind uns trägt

Titel: So weit der Wind uns trägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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»Fernando«, wie sie ihn nannte, fest an ihren Busen zu drücken. Und weder Tante Octávia noch Onkel Inácio fühlten sich für seine, Ricardos, Erziehung zuständig – sie hatten genug mit ihren eigenen Kindern zu tun, die schlecht in der Schule, gelangweilt beim Klavierunterricht und respektlos gegenüber Erwachsenen waren, und all dies ihrer Meinung nach natürlich einzig und allein darum, weil Ricardo einen schlechten Einfluss auf sie ausübte.
    Ricardo hatte das Ganze schon mehrfach erlebt. Erst wenn der blaue Brief vom Rektor kam, würde seine Mutter ihn anhören. Sie würde ihn tadelnd ansehen, und an ihrer Miene würde sich deutlich ablesen lassen, dass sie nicht die Partei ihres Sohnes ergriff, auch wenn sie etwas anderes sagte. Wenn Ricardo Glück hatte, würde sie die Mathematikaufgabe mit ihm zusammen durchgehen. Sie war zwar keine Leuchte in dem Fach, aber den Stoff von Viertklässlern würde sogar sie beherrschen. Sie würde erkennen, dass Ricardo recht gehabt hatte, und wenn sie einen ihrer kämpferischen Tage hatte, würde sie empört bei der Schule anrufen – nur um sich am Ende doch für das ungebührliche Benehmen ihres Sohnes zu entschuldigen.
    Oh nein, noch einmal würde er diese erniedrigende Prozedur nicht über sich ergehen lassen. Er würde sich niemandem anvertrauen. Er würde den blauen Brief abfangen. Er würde außerdem ein Schreiben aufsetzen, in dem er untertänigst darum bat, dass Ricardo da Costa nicht der Schule verwiesen werden möge, um eine vielversprechende Zukunft nicht zu gefährden et cetera. Unterschreiben würde er mit Laura da Costa. Er hatte die Unterschrift seiner Mutter schon einmal gefälscht, und das einzig Blöde daran war gewesen, dass er mit dieser brillanten Leistung vor niemandem angeben konnte. Kein Mensch hatte etwas bemerkt.
    Eine winzige Hürde galt es allerdings zu überwinden. Die Schreibmaschine stand in dem Raum, den man hochtrabend »Büro« nannte, obwohl »Müllhalde« zutreffender gewesen wäre. In diesem mit überflüssigem Krempel zugestellten Raum konnte Ricardo sich kaum eine Minute aufhalten, ohne dass es jemandem auffiel. Wenn sein Onkel dort nicht gerade mit hoffnungslosem Gesichtsausdruck über den Büchern hing, dann saß seine Tante dort und schrieb einen Brief, spielte Sílvia darin mit ihrer besten Freundin irgendein idiotisches Mädchenspiel, saß Xavier wichtigtuerisch auf dem hölzernen Drehstuhl und übte schon einmal Chef-Sein oder wischte das Dienstmädchen Staub. Das Büro wurde von allen gern genutzt, weshalb es ja auch so unordentlich war. Es lag gleich neben dem Esszimmer, und die Tür zwischen beiden Räumen stand meist offen. Es war außerordentlich schwierig, dort unbemerkt einen Brief zu tippen. Aber ihm würde schon irgendetwas einfallen.
    Ricardo schlenderte missmutig zum Stausee. Seine Laune hatte sich kaum gebessert, seit er sich seiner Schulsachen entledigt hatte. Eigentlich bedauerte er es jetzt sogar ein wenig. Wer weiß, vielleicht waren die Autoren der Schulbücher ja nicht ganz so bekloppte Trottel wie der Lehrer. Und vielleicht hätte er von den Büchern noch profitieren können. Von dem Mathe-Buch ganz bestimmt nicht, das hatte er bereits bis zur letzten Seite durchgelesen und alles für Kinderkram gehalten. Aber das Geschichtsbuch hätte interessant sein können. Oder das Portugiesisch-Lesebuch. Ach, Quatsch, sagte er sich. Wofür brauchte er Märchen oder Gedichte? Schöne Verse gaben ihm weder einen Vater noch einen Vorteil darin, den anderen Kindern mit Kartentricks Geld aus der Tasche zu ziehen.
    Verfluchte Schule, dachte er. »Scheißschule«, murmelte er dann leise vor sich hin. Er erschrak über sich selber, über die Gewagtheit, etwas so Verbotenes zu sagen. Schließlich lächelte er triumphierend. »Scheißschule!«, rief er laut, und es fühlte sich außerordentlich befreiend an.
     
    Drei Monate lang konnte Ricardo an jedem Wochentag unbehelligt zum Stausee gehen und sich dort der nicht ganz ausgereiften Aerodynamik seiner selbst gebauten Flieger widmen. Am Material konnte es nicht liegen. Nachdem sich Pergamentpapier als zu leicht und dünne Sperrholzplatten als zu schwer für die Größe seiner jeweiligen Konstruktionen erwiesen hatten, waren die Tragflächen aus Pappe relativ zuverlässig. Der Rumpf war vielleicht noch verbesserungswürdig. Er war einfach nicht schnittig genug. Ricardo hatte es mit allen möglichen Formen und Grundgerüsten versucht, doch am besten hatte es bisher mit den

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