So weit der Wind uns trägt
Seines ehemaligen Patrão, verbesserte er sich in Gedanken. Die Szene, die sich wie in Zeitlupe vor seinen Augen abgespielt hatte, war so grotesk gewesen, dass er zwischen Lachen und Weinen hin- und hergerissen war. Jujú hatte mitgenommen ausgesehen, ja, aber ihr Unwohlsein war noch lange keine Erklärung dafür, dass sie bei seinem Anblick derartig durchdrehte. Oder ihre Schwester ohrfeigte. Er selber hatte gelernt, seine Gefühle hinter einer gleichbleibend neutralen Miene zu verbergen, aber die arme Mariana war nach diesem unschönen Erlebnis – das sich noch dazu an ihrem Verlobungstag ereignet hatte – wie von Sinnen. Ihre Trauer und Wut und Verlegenheit hatte sie dadurch zu überspielen versucht, dass sie wirr auf ihn einredete, belangloses Zeug aussprudelnd wie ein Wasserfall. »Komm, Fernando, wir begrüßen meine Eltern, sie freuen sich bestimmt sehr über dein Kommen. Möchtest du vielleicht hier Platz nehmen, ah, der Senhor Vieira, kennen Sie schon den Flugkapitän Abrantes? Nein, ach, warten Sie einen Augenblick, ich beschaffe uns etwas zu trinken, Sie beide haben einander derweil sicher viel zu erzählen …« Fernando hatte dem Fremden kurz die Hand geschüttelt und war dann Mariana nachgelaufen, um sich von ihr zu verabschieden. »Ich komme besser ein anderes Mal wieder. Es ist schon spät, ich will Maria da Conceição nicht so lange warten lassen.« Dann war er wieder gegangen, ohne es auch nur eine Sekunde zu bedauern, dass er an dieser pompösen Veranstaltung nicht länger würde teilnehmen können.
Was ihm einst wie der Inbegriff eines fürstlichen Lebensstils erschienen war, flößte ihm heute weit weniger Ehrfurcht ein. Die überfrachtete Dekoration, die plüschigen Teppiche, die erdrückende Vielzahl an Gemälden, Nippes und Spitzendecken, die imitierten Barock-Möbel aus den deprimierend dunklen Hölzern – all das erschien ihm jetzt beinahe provinziell. Er hatte den Oberstleutnant Ferreira und seine Gattin weiß Gott oft genug zu hochkarätigen Veranstaltungen in Lissabon begleitet, um sich einen Einblick in die wahrhaft vornehme Welt zu verschaffen. Und die hatte nicht viel gemein mit diesem aufgesetzten Luxus, in dem aufgedonnerte Landpomeranzen und goldbehangene Würdenträger mit altväterlichen Backenbärten literweise Champagner vernichteten. Die Carvalhos waren, das erkannte Fernando plötzlich, auch nur Bauern – und kein Geld dieser Erde würde daran etwas ändern können. Genauso wenig wie vorteilhafte Eheschließungen, welche die Töchter in eine höhere soziale Schicht beförderten.
Bevor Fernando die Feier verließ, hatte er einen letzten Blick auf diesen Geck von Rui geworden, der durch sein Verhalten eindeutig Besitzansprüche an Jujú demonstrierte. Nun ja, immerhin war dieser fürchterliche Mensch noch nicht ihr Ehemann, womit man nach all den Jahren ja hätte rechnen können. Bei diesem Gedanken begann Fernando wieder Hoffnung zu schöpfen. Wenn Jujú mit nunmehr 23 Jahren sich noch nicht vermählt hatte, dann doch nur deshalb, weil sie ihn, Fernando, noch immer liebte, oder?
»Es ist an der Zeit, dass ich das Abendessen vorbereite«, holte ihn seine Mutter in die Gegenwart zurück. »Es gibt heute, dir zu Ehren – und weil Sonntag ist –, Schweinekoteletts. Ich muss allmählich die Kartoffeln schälen und das Gemüse …«
»Mãe. Weil Sonntag ist, werden Sie heute nicht kochen. Esst das Fleisch von mir aus morgen. Wir gehen aus. In ein Restaurant, nur Sie und ich, wie finden Sie das?«
»Aber das geht doch nicht. Was sollen denn Sebastião und Rosa und der Senhor Rodrigo essen? Die beiden haben ihn heute extra eingeladen, er ist ja Rosas Onkel und Sebastiãos Patrão, erinnerst du dich? Und unser Vermieter.«
»Lassen Sie einmal Rosa ihre hausfraulichen Qualitäten zum Besten geben – sie hat ja viel zu selten Gelegenheit dazu. Wahrscheinlich ist sie deshalb so garstig.« Gegen Mittag, als Fernando in Évora eingetroffen war, hatte er seine Schwägerin ganze zehn Minuten in all ihrer Widerwärtigkeit erlebt – bevor sie ihrem Mann in die Taverne folgte.
»Wenn dann aber Sebastião seine Stellung verliert …«
»… dann ist es ganz bestimmt nicht Ihre Schuld. Also, kommen Sie schon: Ziehen Sie sich Ihre Sonntagsschuhe an und lassen Sie sich von mir ausführen. So richtig vornehm.«
»Also wenn du meinst …«
Wenig später verließen Mutter und Sohn das heruntergekommene Gebäude. Im Treppenhaus roch es nach Kohlsuppe, ungelüfteten Betten
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