So weit der Wind uns trägt
und Ruß. Fernando hielt die Luft an, als sie an dem Abtritt im Zwischengeschoss vorbeiliefen, der von allen Mietern des Hauses genutzt wurde. Erst draußen auf der engen Gasse konnte er wieder atmen. Die Luft war mild, die Temperatur lag um einige Grad höher als in der Wohnung. Die Sonne hatte geschienen, doch durch die kleinen Fenster war kaum Licht oder Wärme ins Innere der Wohnung gedrungen. Jetzt dämmerte es bereits, und aufgrund des klaren Himmels würden der Abend und die Nacht erneut empfindlich kalt werden. Er nahm seine Mutter bei der Hand. Sie ließ es sich, nach kurzem Zögern, gefallen. Vertraute Berührungen dieser Art waren in der Familie Abrantes nie an der Tagesordnung gewesen.
»Ich habe auf meinem Weg vom Bahnhof zu eurer Wohnung ein Lokal entdeckt, das mir sehr ansprechend vorkam. ›Casa Leopoldo‹, kennen Sie es?«
»Aber Fernando, das ist eines der feinsten Gasthäuser in Évora! Sogar der Senhor Rodrigo speist dort. Das können wir uns doch nicht leisten!«
»Lassen Sie das meine Sorge sein.« Sehr viel Geld hatte Fernando wirklich nicht dabei. Doch die Tatsache, dass Senhor Rodrigo in dem Restaurant verkehrte, beruhigte ihn. Wenn der alte Krämer, der nicht einmal die Wohnung seiner Nichte instand hielt, dort aß, dann war die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Preise niedrig waren.
Nachdem seine Mutter sich einmal mit dem Gedanken angefreundet hatte, dass sie »Geld zum Fenster hinauswerfen« würden, und nachdem Fernando sie zu einem großen Glas des erstaunlich guten Hausweins hatte überreden können, veränderte sich ihre ganze Haltung. Immerzu blickte sie um sich, in der Hoffnung, dass Bekannte sie in Begleitung ihres wohlgeratenen Sohnes sehen würden. Ihr Stolz war rührend. Ihrer mit zunehmendem Weingenuss sich steigernden Gefühlsbetontheit dagegen konnte Fernando nur wenig abgewinnen. Er wollte seine Mutter nicht mit feuchten Augen sehen, und seien es auch Tränen des Glücks, die darin standen. Es war ihm unangenehm, wenn seine Mutter ihm immer und immer wieder versicherte, er sei die absolute Krönung der Abrantes-Sippe. Und am allerwenigsten mochte er es, dass sie ihm, mit vor Liebe verschleiertem Blick, andauernd die Wange streichelte. Besser wäre es gewesen, sie hätte sich über das Essen aufgeregt, das sie selber für einen Bruchteil der Kosten viel schmackhafter zubereitet hätte.
Fernando sehnte sich bereits nach seinem Flugzeug, nach der Klarheit der Sprache seiner Instrumente. Dort gab es keine Zwischentöne, nur richtig oder falsch. Ihm fehlte sogar die Kaserne mitsamt der Sicherheit, die ihm die Ordnung und die geregelten Abläufe gaben. Denn auf einem Terrain, das strengstens in Dienstgrade, Pflichten und Zuständigkeitsbereiche unterteilt war, konnte man sich nicht verirren – während die Landkarte der Emotionen ihm nahezu unlesbar erschien.
Am nächsten Morgen reiste Fernando aus Évora ab. Er hatte ursprünglich zwei Nächte länger bleiben wollen, doch die Atmosphäre in der Wohnung deprimierte ihn derartig, dass er lieber sein letztes Geld für eine Pension ausgab. Er verabschiedete sich höflich, aber kalt von Sebastião und Rosa, während er seine Mutter fest in die Arme schloss und sich von ihren Tränen beinahe anstecken ließ. »Ich hole Sie bald hier heraus, Mãe. So, und jetzt muss ich gehen, mein Vorgesetzter kennt kein Pardon bei Verspätungen.« Die Lüge ging ihm glatt über die Lippen, dennoch hatte er Gewissensbisse. Es war nicht recht, die eigene Mutter zu belügen, um Jujú näher zu sein. Denn das war es doch eigentlich, was ihn aus Évora forttrieb, gestand er sich ein. Er hatte ein so starkes Bedürfnis danach, sich in ihrer Nähe zu wissen, sich in freier Natur den Erinnerungen hinzugeben, dass er sich lieber in Beja eine billige Unterkunft suchte, als hier bei seinen Nächsten zu bleiben. Selbst auf die Gefahr hin, dass er Jujú gar nicht mehr sah. Denn von sich aus würde er sie gewiss nicht mehr aufsuchen.
Er hatte es gehofft.
Sie hatte es geahnt.
Am Dienstag, drei Tage nach dem ebenso kurzen wie aufwühlenden Wiedersehen bei der Feier, begegneten Fernando und Jujú sich erneut. Diesmal waren sie gewappnet. Dennoch machte Jujús Herz gewaltige Sprünge, als sie ihn unter dem Olivenbaum sah.
Er wirkte schlanker, als sie ihn in Erinnerung hatte, aber das mochte auf die Kleidung zurückzuführen sein. Sein Körper, den man unter der weiten Bauernkleidung nie richtig gesehen hatte, zeichnete sich unter dem schlichten
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