So weit der Wind uns trägt
eine der Carvalho-Töchter mit schuldbewusster Miene die Garage aufgesucht hatte, wäre ihm der kalte Wildschweinbraten im Halse stecken geblieben. So aber schmeckte er ihm ausgezeichnet, besser als alles, was Anunciação ihm in den vergangenen Monaten von den Resten der Herrschaften aufgehoben hatte.
10
E r spürte die Kälte in allen Knochen. Begann er etwa schon, zu verweichlichen? Früher hatte es ihm nichts ausgemacht, eisige Winternächte in ungeheizten Räumen zu verbringen. Sogar auf gefrorenem Boden hatte er früher geschlafen, notdürftig geschützt von einem Bündel Stroh oder Zeitungspapier, ohne es als allzu schlimm zu empfinden. Doch jetzt schauderte Fernando. Oder lag es gar nicht an der Kälte, sondern an dem Abscheu vor der lieblosen Behandlung, die seine Mutter bei Sebastião erfuhr? Wie konnte sein Bruder die eigene Mutter nur in einem Raum unterbringen, die bestenfalls als Besenkammer taugte, fensterlos, winzig, muffig und ungeheizt? Was geschah mit dem Geld, das er regelmäßig anwies? Himmelherrgott, er hätte schon viel eher nach dem Rechten schauen sollen. Er kannte seinen Bruder. Sebastião war bereits als Kind nach dem Vater gekommen, und mit zunehmendem Alter wurde die Ähnlichkeit immer frappierender. Er brauchte nur Sebastiãos rot geäderte Nase zu sehen, um genau Bescheid zu wissen.
»Mãe, wie viel von dem Geld geben Sie Sebastião, damit er es versaufen kann?«
Seine Mutter sah Fernando schuldbewusst an. »Aber Fernando, er hat mich hier aufgenommen. Ich muss nun einmal meinen Anteil beisteuern zur Miete und zu den anderen Kosten.«
»Zu welchen anderen Kosten? Für Brennholz wird hier anscheinend ja kein Escudo ausgegeben. Lebensmittel bekommt Sebastião von Rosas Onkel praktisch umsonst, und für die Kammer, in der Sie hausen müssen, sollten Sie eigentlich noch Geld dazubekommen. Außerdem: Waschen, kochen und putzen Sie nicht den ganzen Tag? Sebastião spart dadurch …«
»Nein, Fernando«, unterbrach seine Mutter ihn, »du siehst das falsch. Ich kümmere mich hier freiwillig um alles. Mit irgendetwas muss ich mich doch beschäftigen.«
Fernando betrachtete ihre Hände. Sie hatten ein Leben lang nichts als harte Arbeit geleistet, und sie nun einfach in den Schoß zu legen wäre Gertrudes Abrantes niemals in den Sinn gekommen. Dabei hätte sie es wahrhaftig verdient. Sie war alt geworden in den letzten Jahren, aufgezehrt vom freudlosen Witwendasein, von Entbehrungen aller Art, von der Vernachlässigung durch ihre Kinder und von den Boshaftigkeiten ihrer Schwiegertochter, Rosa, die das Zusammenleben mit Dona Gertrudes auf engstem Raum für eine Zumutung hielt und dies auch deutlich zum Ausdruck brachte. Gertrudes Abrantes’ Rücken war krumm und schien, nach dem Gesicht zu urteilen, das sie beim Aufstehen oder beim Treppensteigen zog, zu schmerzen. Aber niemals hätte seine Mutter geklagt, anders als Rosa und die feinen Senhoras und die Bürgerfrauen oder auch deren Männer, die jedes Zipperlein zu einem schweren Leiden aufbauschten und die den Ärzten sagenhafte Umsätze bescherten. Hypochondrie war das Volksleiden Nummer eins. Auf einen unbeteiligten Beobachter musste es den Eindruck machen, als läge ganz Portugal danieder.
»Ach, Mãe …«
»Mach dir um mich keine Sorgen, Fernando. Mir geht es gut hier. Wir haben ein Dach über dem Kopf und müssen keinen Hunger leiden. Und ich bin auch gar nicht so allein, wie du vielleicht denkst. Die Witwe Carneiro aus dem vierten Stock ist sehr darum bemüht, mich mit anderen Frauen aus der Nachbarschaft bekannt zu machen, und sie kennt hier wirklich jeden, der wichtig ist. Stell dir vor, der Padre ist ihr Neffe, und der Sargento von der Guarda Civil ist ein Cousin von ihr! Außerdem hat mir an dem Tag, als ich sie kennenlernte, eine Taube direkt auf den Kopf gemacht – und das bringt Glück, wie du weißt.«
Teufel auch! Fernando stellte sich den weißen Taubendreck auf dem schwarzen Kopftuch seiner Mutter vor und war dankbar dafür, dass sie so lange an ihrer Trauerkleidung festhielt. Aber dass sie jetzt schon in Taubenkot ein gutes Omen sah, das ging zu weit. Dennoch verkniff er sich einen Kommentar. Er hatte dem Aberglauben seiner Mutter nichts entgegenzusetzen. Nichts außer seinen Fähigkeiten und dem festen Willen, es zu etwas zu bringen – ohne auf ein Wunder Gottes zu hoffen.
Dabei war die Unerschütterlichkeit seiner Tatkraft erstmals schwer ins Wanken geraten, letzte Nacht, bei dem Fest im Haus des Patrão.
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