So weit der Wind uns trägt
die mit dem Prägestempel »Beja, 31 . 12 . 1899 – 1 . 1 . 1900 « versehen war.
Das alles hatte sie am Morgen getan, bevor die umständliche Prozedur des Ankleidens und Frisierens begann. Es hatte kaum länger als zehn Minuten gedauert, ihre Bedenken für immer wegzupacken. Sie hatte trocken geschluchzt – ihre Tränen waren alle schon geweint –, um dann, mit gestrafften Schultern, die Trümmer ihrer Vergangenheit in einer hölzernen Portweinkiste auf dem Dachboden zu verschließen.
»Meine Eltern haben gleich zehn Kisten ihres kostbaren Vintage von 1892 spendiert«, riss Rui sie in die Wirklichkeit zurück.
Schön, dachte Jujú. Davon würde sie sich in Kürze ein Gläschen genehmigen. Oder auch zwei. Irgendwie würde sie diesen Tag und die Hochzeitsnacht schon durchstehen. Und irgendwann würde sie das Bild, das sie die ganze Zeit verfolgte, verscheucht haben – das Bild eines grünen Augenpaares, in dem die goldenen Fünkchen verglommen, weil ihnen die Luft zum Überleben genommen worden war.
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1923 – 1933
13
A ntónio Saraiva war noch nicht lange als Kellner in dem Kaffeehaus »A Brasileira« beschäftigt – lange genug allerdings, um auf den ersten Blick erkennen zu können, welcher Gast großzügig beim Trinkgeld war und welcher nicht. Jetzt, das erkannte er auf Anhieb, hatte er es mit einer Dame zu tun, die überaus spendabel war. Eine Reihe winziger, gleichwohl untrüglicher Anzeichen sprach dafür. So hatte sie jedem ihrer beiden Kinder ein eigenes süßes
pastel
bestellt, obwohl denen ein Happen vom Gebäck ihrer Mutter sicher gereicht hätte. Dann hatte sie sich innerhalb einer Viertelstunde drei teure ausländische Zigaretten angezündet, sie aber nach wenigen Zügen ausgedrückt. Und sie hatte, hierin lag für António der sicherste Hinweis auf ein hohes Trinkgeld, mit fahrigen Gesten und abwesendem Blick eine Zeitung beiseitegelegt, von der sie gerade einmal die hintersten beiden Seiten überflogen hatte. Die Dame befand sich eindeutig in einem emotionalen Zustand, der weder genaues Nachprüfen der Rechnung noch kleinmütiges Einstecken des Wechselgeldes erwarten ließ.
Tränen glänzten in ihren Augen, und ihr wehmütiger Gesichtsausdruck ließ sie noch schöner aussehen. António war hingerissen. Er schätzte die Frau auf etwa dreißig Jahre, doch trotz dieses fortgeschrittenen Alters hatte sie eine Wirkung auf ihn, wie sie seit dem Lehrmädchen Jacinta kein weibliches Wesen je auf ihn ausgeübt hatte. Unter ihren mandelförmigen, braunen Augen hatte sie erfolglos die dunklen Ringe mit Puder abzudecken versucht, was ihr einen noch tragischeren Ausdruck verlieh. Ihr kinnlanges Haar trug sie in Wellen, die am Kopf anlagen und vor Frisiercreme glänzten. Ihren Hut, ein extravagantes, federgeschmücktes Stück, wie António es nie zuvor in Lissabon gesehen hatte, hatte sie abgenommen, auch dies ein Indiz für die Seelenlage der Frau. Welche junge Mutter aus feineren Kreisen sitzt schon am helllichten Tag ohne Hut – und vor allem: mit Kindern, aber ohne Kindermädchen – im Café, raucht in der Öffentlichkeit und bestellt sich einen Likör?
Dass die Dame aus der besseren Gesellschaft stammte, war für António gesichert. Ihre Kleidung und die ihrer unerzogenen Kinder, ihr arroganter Ton, ihre manikürten Hände sowie ihre exklusive Zigarettenspitze aus Elfenbein und Silber sprachen Bände. Ob sie eine Ausländerin war? Aber nein, dann hätte sie ja die Zeitung nicht lesen können. Vielleicht kam sie aus Brasilien oder einer der portugiesischen Kolonien? Wohl kaum – auch dort wäre ein so rot geschminkter Mund wie der ihre nicht eben üblich gewesen, jedenfalls nicht nachmittags. Nun, António würde herausfinden, was es mit ihr auf sich hatte. Der Aschenbecher musste ohnehin wieder geleert werden, auch nach weiteren Wünschen konnte er sich erkundigen. Vielleicht ergab sich ja die Gelegenheit, mehr über diese geheimnisvolle Frau, diese
femme fatale,
in Erfahrung zu bringen. Denn das war sie ganz ohne Zweifel: eine Dame mit Vergangenheit.
Jujú wäre ganz anderer Meinung gewesen. Sie fühlte sich eher wie eine Frau
ohne
Vergangenheit. Die sieben Jahre an Ruis Seite zählten nicht, die davor hatte sie freiwillig weggeworfen. Und die Zukunft versprach auch nicht mehr.
»Laura! Paulo! Schluss jetzt damit! Ihr kommt auf der Stelle hierher und bleibt ruhig sitzen!« Die Kinder kamen sofort unter dem Marmortischchen hervorgekrochen, unter dem sie Verstecken gespielt
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