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So weit der Wind uns trägt

So weit der Wind uns trägt

Titel: So weit der Wind uns trägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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das dampfende Getränk vor ihrem Mund, immer wieder daran nippend. Sie sah aus wie jemand, der sich wärmen musste. Oder nachdenken. Doch dazu kam sie nicht. Paulinho hatte die Zeitung entdeckt, und nun war er vollauf darauf konzentriert, die Seiten zu kleinen Schnipseln zu zerreißen. Unwirsch nahm Jujú ihm die Zeitung weg. Wieder begann der Junge zu weinen.
    Ihr Tisch sah aus wie ein Schlachtfeld, voll Zuckerkrümel, Papierfetzen, malträtierten Kuchenstücken und verschütteter Limonade. Der Kellner, der sie noch immer bei jeder Gelegenheit impertinent anglotzte, war einfach zu langsam für den Verwüstungsdrang ihrer Kinder. Und sie selber war es erst recht. Es hatte keinen Sinn, ihnen jeden Gegenstand wegzunehmen, jedes Wort zu verbieten, jedes Toben zu untersagen – ihnen würde immer wieder etwas Neues einfallen.
    Als am Nachbartisch Leute Platz nahmen, die einen Hund dabeihatten, war Jujú froh, dass ihre Kinder eine Weile abgelenkt sein würden. Sie ließ sie mit dem Tier spielen, ohne auch nur eine Silbe darüber zu verlieren, dass Laura auf ihr Kleid aufpassen oder Paulo sich vor dem Hund in Acht nehmen solle. Sie zündete sich eine Zigarette an und sah in der Spiegelwand den Rauchkringeln nach, die aus ihrem Mund aufstiegen. Sie verflüchtigten sich langsamer, als ihre eigenen Hoffnungen es heute getan hatten.
     
    Bevor ihr erneut Tränen in die Augen schießen konnten, zwang Jujú sich dazu, ihr Leben aus einem objektiveren Blickwinkel zu betrachten. Sie hatte wahrhaftig keinen Anlass zum Selbstmitleid. Jeder einzelne Kellner hier in diesem Kaffeehaus würde auf der Stelle mit ihr getauscht haben – so wie wahrscheinlich 99 Prozent der portugiesischen Bevölkerung. Mein Gott, war sie eine dumme Gans! Sie lebte in luxuriösen Verhältnissen. Sie hatte einen Ehemann, dem schlichtere Gemüter anerkennend bescheinigt hätten, dass er »gut zu ihr« war. Sie hatte zwei hübsche Kinder, nette Schwiegereltern, fähiges Personal und nicht einen einzigen Krankheits- oder Trauerfall in der Verwandtschaft – ihren Eltern und ihren Schwestern sowie deren Familien ging es, soweit Jujú das aus der Entfernung beurteilen konnte, gut. Sie hatte Zeit, Geld und Muße, sich ihrem Garten und der Einrichtung des Hauses zu widmen, zwei Beschäftigungen, denen sie besonders gerne nachging. Sie konnte jederzeit Reisen nach Paris oder London unternehmen, um sich und ihre Kinder neu einzukleiden. Und sie konnte so lange schlafen, wie sie wollte. Inzwischen brachte sie es auf fast elf Stunden Schlaf täglich, neun Stunden in der Nacht, dazu eine zweistündige Siesta. Ja, sie verschlief ihr Leben, und es machte ihr nicht einmal etwas aus. Was verpasste sie schon?
    Spielte es irgendeine Rolle, ob sie anwesend war oder nicht? Ihre Kinder fühlten sich viel wohler, wenn sie mit Aninha zusammen sein konnten, die sich auf dem intellektuellen Niveau einer Zehnjährigen bewegte – und bei der sie wohl auch ungestraft Wörter in den Mund nehmen durften, deren Gebrauch sie, Jujú, ihnen verboten hätte. Ihre Schwiegereltern, Dona Filomena und Senhor Adalberto – die Jujú sich weiterhin sträubte mit
mamã
und
papá
anzusprechen –, hatten einander und brauchten keine anderen Menschen zur Zerstreuung. Sie hatten lange genug allein in dem großen Haus am Douro gelebt, um sich vorzüglich miteinander unterhalten zu können. Sie spielten oft Mühle oder Dame, saßen gern beieinander am Kamin und lasen oder gingen zusammen spazieren. Natürlich liebten sie ihre Enkelkinder, und sie nahmen jede Gelegenheit wahr, den beiden ein Märchen vorzulesen oder mit ihnen Fangen zu spielen. Dennoch wurde Jujú nie den Eindruck los, dass ihre Schwiegereltern sich ebenso wohl gefühlt hätten, wenn sie keine Enkel im Haus gehabt hätten. Sie genügten einander vollkommen. Selten war Jujú einem Paar begegnet, das sich noch nach so langen Ehejahren so aufrichtig liebte, sich mit einer solchen Zärtlichkeit begegnete und nur Augen füreinander hatte. Vielleicht wäre es Dona Filomena sonst aufgefallen, dass ihr Sohn Rui eine Ehe führte, die von diesem Ideal weit entfernt war.
    Ihrem Mann war Jujú gleichgültig – so wie er ihr. Man hätte nicht einmal behaupten können, dass sie eine schlechte Ehe führten. Sie begegneten einander mit Respekt und Höflichkeit. An langen Winterabenden saßen sie ebenfalls lesend am Kamin oder spielten Bridge mit Dona Filomena und Senhor Adalberto. Rui besprach manchmal geschäftliche Vorgänge mit Jujú, damit

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