So weit der Wind uns trägt
Doch viel scheußlicher – weil eindringlicher – war das Foto gewesen, das über dem Text abgedruckt war: Fernando und diese Elisabete bei dem Ball, in inniger Umarmung und beide mit strahlendem Lächeln. Jujú hoffte, dass die Abbildung der Zerstörungswut ihres Sohnes ebenfalls zum Opfer gefallen war.
Sie drückte ihre Zigarette aus und griff nach den Überbleibseln der Zeitung. Einmal noch, nur ganz kurz, wollte sie sich Fernandos Gesicht anschauen. Bitte, lieber Gott, lass es Paulinho nicht zerrissen haben!
Der Riss ging mitten durch das Foto des jungvermählten Paares, und beinahe hätte Jujú laut aufgelacht. Besser hätte sie es selber nicht machen können. Vorsichtig riss sie den Text ab und löste Fernandos Bild aus dem Rest des Papierschnipsels. Sie betrachtete es intensiv, doch je näher sie hinschaute, desto mehr verschwammen seine Züge, wurden zu einer abstrakten Grafik in Schwarz und Weiß, die mit dem echten Fernando nichts zu tun hatte. Entnervt zerknüllte Jujú das Bild und warf es in den Aschenbecher.
Ein ohrenbetäubendes Scheppern riss sie aus ihren Gedanken. Die Kinder hatten den Hund offenbar so gereizt, dass er sich mit einem wütenden Knurren zur Wehr setzte – worauf die Kinder, so rekonstruierte Jujú den Vorgang, abrupt Reißaus genommen hatten und der Tisch umgefallen war.
Jujú sprang von ihrem Platz auf, zerrte die verängstigten Kinder an ihren Tisch und gab jedem von ihnen eine schallende Ohrfeige. »So, das war’s. Drei Tage Stubenarrest. Und jetzt hingesetzt und keinen Mucks mehr.« Dann erst bemerkte sie die empörten Gesichter der Hundebesitzer am Nebentisch, deren Getränke sich über ihre Kleidung und den Fußboden ergossen hatten. »Hier ist meine Karte. Ich komme natürlich für die Reinigung und andere etwaige Schäden auf.« Mit einer Geste in Richtung Kellner, der, wie alle anderen anwesenden Personen, das Spektakel gebannt verfolgte, verlangte sie die Rechnung.
Sie bezahlte mit einem viel zu großen Schein. »Setzen Sie die Getränke dieser Herrschaften«, damit deutete sie auf ihre Sitznachbarn, »auch noch drauf.«
Wenig später kam der Kellner mit dem Wechselgeld zurück. Jujú nahm alle Münzen von dem Silbertellerchen und warf sie achtlos in ihre Handtasche. Sie erhob sich, nahm ihren Mantel von der Stuhllehne und merkte, dass der junge Kellner hinter ihr stand, um ihr in den Mantel zu helfen. Anschließend, während sie Paulos Ärmchen unsanft in die Jacke steckte, half der Kellner Laura, ihren Mantel zuzuknöpfen. Also schön, dachte Jujú, der Kellner konnte ja nun wirklich nichts dafür, dass sie ihr Leben ruiniert hatte und dass ihre Kinder so schlecht erzogen waren. Sie griff nach ihrer Börse, zog einen Zehner hervor und gab ihn dem jungen Mann mit einem verkniffenen Lächeln.
António bedankte sich mit einem tiefen Diener.
Was die Höhe des Trinkgeldes betraf, hatte er recht behalten.
14
E s erfordert einiges an schauspielerischem Talent, einen herbeigeführten »Zufall« echt aussehen zu lassen.
Jujú hatte immer geglaubt, über diese Begabung zu verfügen, doch nun überkamen sie starke Zweifel. Es war etwas anderes, wenn man auf der Bühne stand und genau wusste, wann man den einstudierten Satz zu sagen hatte, oder ob man, wie jetzt, weder den Zeitpunkt noch die exakten Umstände des mimischen Einsatzes kannte.
»Fernando? Ach, das gibt es ja nicht! Was für ein Zufall!«
Das wollte sie ausrufen, wenn er ihr begegnete. Doch wie soll man eine Miene, die man vor dem Spiegel so lange geübt hat, bis sie nach echter Überraschung aussieht, im entscheidenden Moment kaltblütig aufsetzen, während einem das Herz bis zum Hals schlägt? Wie unterdrückt man das aufgeregte Zittern, das einen schlagartig überfällt, sobald der herbeigesehnte, der gefürchtete Augenblick gekommen ist?
Sie hatte seinen Wohnort in Erfahrung gebracht und seine Gewohnheiten beobachtet. Sie wusste, dass er gegen neun Uhr das Haus in der Rua das Janelas Verdes verließ, etwa zweihundert Meter rechts zum Largo de Santos ging und dort die Straßenbahn Nr. 24 zur Praça do Comércio nahm. Es wäre ein Leichtes, ihm auf der Straße entgegenzuschlendern, angeblich auf dem Weg zu einem nahe liegenden Café oder zum Museu Nacional das Artes Antigas, und ihn anzusprechen. Aber was würde sie tun, wenn er in Begleitung seiner Frau war? Wenn es gleich anfing zu regnen und er den Schirm so tief über dem Kopf hielt, dass sie ihn unmöglich hätte erkennen können? Oder wenn er
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