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So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Fährmann
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mehr. Dass diesen Kindern Gerechtigkeit widerfährt, deshalb trage ich die Schwesternkutte.«
    »Die Engelsflügel«, sagte Ruth.
    Die Schwester lächelte. »Wir kämpfen dafür, dass die Kinder Schulunterricht bekommen. Dass die, die es können, mit den anderen Kindern, zum Beipiel mit euch, in einer Klasse sein dürfen. Auch im Rollstuhl kann man lernen. Ihr selbst könntet dann begreifen, dass sie zu uns gehören. Aber bis dahin wird es wohl noch lange dauern.«
    »Habt ihr eigentlich bemerkt, wie fröhlich die Kinder sein können?«, sagte Ruth nachdenklich. »Als die Schwestern mit ihnen spielten? Wie sie gelacht und vor Freude gekreischt haben?«
    Die Schwester schloss Ruth in die Arme und drückte sie an sich. Schweigend ging sie hinaus.
    Lydia hatte unbemerkt mitgehört. Sie schlief bald wieder ein. Am nächsten Morgen wusste sie nicht, ob sie das alles geträumt hatte oder ob es Wirklichkeit gewesen war. Doch sie traute sich nicht, Anna danach zu fragen. Doch eines wusste sie: Sie würde im Bett bleiben und niemals in den Innenhof des Schlosses schauen.
    Am Samstag gegen zehn Uhr schaute der Arzt nach Lydia. Schwester Nora sagte: »Die Rötung ist gestern Abend schon blasser gewesen. Und heute …« Sie nahm den Verband ab. »Das sieht ja schon viel besser aus.«
    Der Arzt nickte. »Ich gebe Ihnen für die weitere Behandlung eine Salbe. Die zweite Spritze müssen Sie mir aber zurückgeben, Schwester. Viele Menschen warten auf Penicillin.«
    »Selbstverständlich, Herr Doktor.«
    »Es tut mir leid, Herr Dr. Amfell, dass ich mich vorgestern so komisch benommen habe«, sagte Lydia. »Ich werde niemals Dr. Eisenbart zu Ihnen sagen. Es war nicht nur der Fuß, der mir Angst gemacht hat. Ich war niedergeschlagen, weil wir zwei Monate nach Kriegsende immer noch nicht wissen, wann und wie wir nach Hause kommen.«
    »Nun«, sagte Dr. Amfell, »manchmal kommt alles viel schneller, als man denkt.«
    In diesem Augenblick stürmte Anna in den Schlafsaal.
    »Langsam, langsam, Anna Mohrmann«, mahnte Schwester Nora. Anna schien das nicht zu hören. »Ein Lkw! Ein großer Lkw aus Oberhausen steht vor dem Schloss!«, jubelte sie laut. »Wir werden abgeholt! Wir kommen nach Hause!« Sie machte kehrt und rannte wieder hinaus.
    Schwester Nora lief hinter ihr her. Lydia sprang aus dem Bett. Sie spürte keinen Schmerz mehr, schlüpfte in ihren Trainingsanzug und folgte den anderen.
    Dr. Amfell schüttelte verwundert den Kopf. Kommt selten vor, dass man so schnell zum Propheten wird,dachte er.
    Inzwischen hatten sich das Kollegium und die Mädchen um den grauen Lkw geschart. Der Fahrer stellte sich vor: »Ich heiße Philipp Kellen. Bevor ich immer wieder von Neuem erzählen muss, woher, warum, weshalb, wie und wohin, will ich jetzt nur kurz sagen: Dieser Lkw und zwei weitere sind von der Firma Babcock aus Oberhausen nach Süden geschickt worden. Wir sollen die Mädchen, Lehrerinnen und Lehrer aus dem KLV-Lager Maria Quell zurück in ihre Heimat bringen. Inzwischen haben meine beiden Fahrerkollegen und ich erfahren müssen, dass das gar nicht so einfach ist. Immerhin, ich jedenfalls habe euch gefunden. Doch wie das gelungen ist, davon später mehr. Ich hoffe, meine beiden Kollegen haben Glück und spüren möglichst alle anderen Mädchen auf. Unsere Laster werden sich, wenn alles gut geht, in Bad Tölz treffen und spätestens Dienstag die Rückfahrt antreten.«
    Er schaute auf seine Armbanduhr. »Es ist jetzt ungefähr halb zwölf. Wir sollten gegen zwei Uhr losfahren. Bitte nur kleines Gepäck mitnehmen. Das wär’s. Und bitte im Augenblick keine Fragen stellen. Ich verkrieche mich jetzt in meinen Lkw. Nach der langen Fahrt bin ich müde und brauche eine Mütze voll Schlaf.«
    »Das war ja ein kurzer Aufenthalt in unserem Haus«, sagte die Oberin zu Dr. Scholten. Schwester Angela hatte sie von der Ankunft des Lkw unterrichtet.
    »Ich war in der Frühe noch in Linz, Schwester Oberin. Vom Flüchtlingsfonds habe ich eine größere Summe erhalten. Sie müssen mir sagen, was wir Ihnen schuldig sind.«
    Die Oberin nannte den Betrag. Dr. Scholten gab ihr vierhundert Mark. »Stimmt so«, sagte er.
    »Das ist viel zu viel«, erwiderte sie.
    »Es ist ja nicht für Sie, Frau Oberin. Der Rest ist für Ihre … wie sagten Sie vorgestern? Der Rest ist für Ihre anspruchsvollen Gäste.« Er zeigte zum Innenhof. »Aber Sie müssen uns einen Gefallen tun.«
    »Selbstverständlich werden wir Ihnen Reiseproviant mitgeben, Dr. Scholten. Und ohne das

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