So weit die Wolken ziehen
vorbereitete Mittagessen lasse ich Ihre Gruppe hier nicht weg.«
»Danke. Aber das meine ich nicht. Pfarrer Berger in Theresienruh hat mir von seinen Kollektengeldern fünfhundert Mark geliehen. Sonst hätte ich die Fähre in Untermühl nicht bezahlen können. Ich möchte Ihnen das Geld zu treuen Händen geben und Sie bitten, es ihm irgendwie wieder zukommen zu lassen.«
»Das wird möglich sein. Wir Vinzentinerinnen leben nicht nur südlich der Donau.«
»Danke, Schwester Oberin. Wenn die Post ihren Dienst wieder aufnimmt, werde ich Sie wissen lassen, ob und wann wir unsere Heimat erreicht haben.«
Um eins läutete die Glocke zum Mittagessen. Auch der Fahrer wurde eingeladen. So schnell wie an diesem Tag waren die Mädchen noch nie fertig. Trotzdem beharrte Philipp Kellen darauf, erst um zwei loszufahren. Er berichtete nun ausführlich, wie er die Mädchen in Schloss Hartheim gefunden hatte. Es war ihm und allen deutschen Autos nämlich verboten worden, über die Grenze nach Österreich zu fahren. Auf seine Proteste hin war ein Offizier gerufen worden. Er, Philipp Kellen, habe ihm geschildert, dass er zum KLV-Lager in Maria Quell wolle, um die Mädchen abzuholen.
Der Offizier habe ihn überrascht angeschaut und erklärt, dass die jungen Damen inzwischen auf Schloss Hartheim bei Linz seien. Was der Offizier dann gesagt habe, das habe er Wort für Wort behalten. »Manchmal geschehen die unglaublichsten Dinge. Manche nennen das Zufall. Aber ich bin ziemlich sicher, es gibt dieses Wort nur, weil man sonst vieles nicht erklären kann. Denn ich selbst habe der Gruppe den Weg nach Schloss Hartheim geebnet.« Dann habe er die Grenze passieren können.
Um kurz vor zwei gab Philipp Kellen das Zeichen zum Aufbruch.
Anna verabschiedete sich herzlich von Schwester Angela. »Ich danke Ihnen«, flüsterte sie. »Über Ihren Hinweis auf die Gerechtigkeit werde ich nachdenken.«
Die Mädchen und das Lehrerkollegium kletterten auf die Ladefläche und setzten sich auf schmale, roh zusammengenagelte Holzbänke. Der Fahrer wies die Mädchen an, sich still zu verhalten. Denn noch sei ungewiss, ob sie unbehelligt die Grenze nach Deutschland passieren könnten.
»Wenn eine von euch meint, sie muss mich unbedingt in einer wirklich wichtigen Angelegenheit sprechen, dann soll sie dreimal an die Fahrerkabine klopfen. Dann halte ich. Übrigens, ihr könnt mich ruhig mit meinem Vornamen anreden.« Dann schloss er die Plane an der Rückseite des Wagens.
Anna saß unmittelbar neben Dr. Scholten und Frau Wisnarek. Es ging schon auf den Abend zu, da fragte Frau Wisnarek: »Was hast du eigentlich mit der Nonne noch zu reden gehabt, Anna?«
Anna berichtete ihr von dem Gespräch im Schlafsaal.
»Gerechtigkeit. Das ist nur eine billige Vertröstung auf ein angeblich herrliches Leben nach dem Tod«, sagte Frau Wisnarek verärgert. »Das ist eine wunderbare Ausrede, wenn man sich davor drücken will, die Probleme in der Gegenwart zu lösen. Typisch Kirche.«
Anna wusste nicht, was sie sagen sollte. Dr. Scholten fragte sie: »Wie erklären Sie sich dann, Frau Kollegin, den Einsatz der Vinzentinerinnen auf Schloss Hartheim? Das ist ein harter Dienst. Und der geschieht heute. Heute, verstehen Sie. Nicht alles wird auf das Paradies verschoben. Ich meine, auf Schloss Hartheim kommt die Gerechtigkeit jeden Tag ein winziges Stückchen voran.«
Frau Wisnarek sagte: »Aber können wir uns damit zufrieden geben?«
»Da sind wir uns schnell einig, Frau Wisnarek. Wir alle sind gefragt. Aber was heute noch Visionen sind, muss morgen Wirklichkeit werden.«
Unversehens hatten sie die Grenze bei Bad Reichenhall überquert. Philipp legte eine kurze Pause ein und sagte zu den Mädchen: »Hallo, ihr Schönen, atmet mal tief ein.«
Die meisten stiegen aus und sahen ihn verwundert an.
»Riecht ihr es nicht? Wir atmen Heimatluft. Wir sind in Deutschland. Niemand kann uns mehr zurückschicken.«
Die Mädchen redeten aufgeregt durcheinander.
»Schnell weiter«, drängte Ruth. »Bloß weg von der Grenze.«
Lydia tat etwas, was gerade von ihr niemand erwartet hätte, sie kniete sich am Straßenrand nieder und küsste den Boden.
»Bist du verrückt geworden?«, fuhr Anna sie an. »Mach Schluss mit dem Theater.«
»Hast du nie gehört, Anna, wenn früher die Menschen eine Wallfahrt nach Rom gemacht haben, das sind von Oberhausen aus 1690 Kilometer, dann haben sie sich niedergeworfen, sobald sie die Kuppel des Petersdomes zum ersten Mal sahen, und haben die
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