So will ich schweigen
Vermutung nahe, dass es im Schutz der Dunkelheit verübt worden war, wenngleich es keine Garantie dafür gab. Sie verspürte plötzlich den unbändigen Wunsch, den Tatort mit eigenen Augen zu sehen und zu hören, was die Rechtsmedizinerin zu sagen hatte. War die Frau zufällig das Opfer eines Überfalls – und vielleicht einer Vergewaltigung – geworden, oder hatte sie einen Einbrecher auf frischer Tat ertappt? Oder war das Motiv persönlicher Natur?
All das waren Spekulationen, die sie unmöglich mit Kit teilen konnte, und sie konnte ihn auch schlecht über den Zustand der Leiche ausfragen. Sie würde ganz einfach Kincaids Bericht abwarten müssen. Auf einen Punkt aber konnte sie noch näher eingehen.
»Kit, du sagtest, er hätte ihr vielleicht nichts getan, wenn du da gewesen wärst. Hast du irgendetwas gesehen, was dich annehmen lässt, dass es ein Mann war, der Annie überfallen hat?«
»Nein, aber …« Seine Wangen wurden ein wenig blasser. »Ich habe mir wohl einfach nicht vorstellen können, dass eine Frau … so was getan haben könnte.«
Gemma wünschte nur, sie hätte sich seine unschuldige Weltsicht bewahren können, anstatt mit eigenen Augen ansehen zu müssen, wozu Frauen fähig waren. Und doch – statistisch gesehen hatte er recht. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine
Gewalttat von einem Mann verübt worden war, war immer noch sehr viel höher.
Im Seitenspiegel sah Gemma, dass das Pub offenbar zum Leben erwacht war. Eine Frau kam heraus, beladen mit einer Thermoskanne und einem Stapel Styroporbecher, und ging auf den Uniformierten zu, der ihr am nächsten stand.
Gemma hob die Hand und legte die Fingerrücken sanft auf Kits Wange. Seine Haut fühlte sich immer noch kalt an. »Sieh mal, die Wirtin bringt heiße Getränke«, sagte sie. Sie hatte die Frau wiedererkannt, die am gestrigen Nachmittag an der Bar bedient hatte. »Soll ich dir was holen?«
»Nein. Ich hab vorhin schon ein bisschen Kaffee getrunken.« Kit verzog das Gesicht. »Eine der Nachbarinnen hat mir eine Tasse gemacht. Hat aber gar nicht so geschmeckt wie der, den wir daheim immer kochen.« Kit machte gerne am Wochenende Frühstück für alle, und sie hatten sich eine Espressomaschine zugelegt, hauptsächlich, damit Kit und Toby als besondere Leckerei geschäumte Milch löffeln konnten – in Kits Fall mit ein bisschen Kaffee vermischt. Ein Anfall von Heimweh packte Gemma wie ein physischer Schmerz, und sie konnte nur ahnen, wie es Kit in diesem Moment ging.
»Okay, aber ich hole mir mal eine Tasse. Bin gleich wieder da«, fügte sie hinzu und nutzte die Gelegenheit, um rasch auszusteigen, ehe er ihr Gesicht sehen konnte.
Sie hatte dem uniformierten Beamten ihren Polizeiausweis gezeigt und sich auch der Pächterin des Pubs vorgestellt, nun nippte sie gerade an dem kochend heißen und erstaunlich anständigen Kaffee, als sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung auf der Kanalbrücke wahrnahm. Es war die Rechtsmedizinerin, die mit ihrer Tasche in der Hand auf ihren Wagen zuschlurfte. Sie wirkte gedankenverloren, ihre Miene düster.
»Die gute Dr. E. scheint noch schlechter drauf zu sein als sonst«, bemerkte der Constable halblaut.
»Dr. E.?«, fragte Gemma. »Das ist doch die Rechtsmedizinerin, oder?«
»Dr. Elsworthy.« Er hob seinen Becher an die Lippen und leerte ihn, ohne mit der Wimper zu zucken, um ihn dann der Wirtin zurückzugeben. Sein Mund musste mit Asbest ausgekleidet sein, dachte Gemma. »Danke«, sagte er. »Dann geh ich mal lieber auf meinen Posten, bevor die Frau Doktor ihren Köter auf mich hetzt.«
»Also habe ich doch einen Hund gesehen«, murmelte Gemma, während der Constable ihr schon den Rücken kehrte.
Die Wirtin sah sie ein wenig komisch an, fragte aber dann: »Ist es wahr, dass am Kanal jemand ermordet wurde?« An einem Gespräch über Hunde, ob imaginär oder nicht, hatte sie ganz offensichtlich kein Interesse. »Wissen Sie, wer es ist?«
»Die Polizei wird die Identität des Opfers erst bekannt geben, wenn die Angehörigen informiert sind«, antwortete Gemma und wich so zumindest der zweiten Frage aus. Bei der ersten wäre das wohl zwecklos gewesen – die Nachricht würde sich wie ein Lauffeuer verbreiten.
»Das ist bestimmt ganz schlecht fürs Mittagsgeschäft«, meinte die Frau seufzend. »Die Straßensperre wird die Gäste abschrecken.«
»Ich bin sicher, dass Ihre Gäste schon irgendwie den Weg hierher finden werden. Die Neugier dürfte stärker sein als dieses kleine Hindernis«, beruhigte
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