So will ich schweigen
ersten kleinen Schock des Wiedererkennens ausgelöst. Dann die ledernen Segelschuhe, von denen einer ein Stück neben ihrem Fuß auf der Seite lag, als hätte sie ihn gerade erst abgestreift. Das blonde Haar, jetzt mit Blut verfilzt, und der markante Unterkiefer, halb verdeckt durch den über den Kopf gelegten Arm, hatten schließlich nur noch die letzte Bestätigung geliefert.
Aber dass sie dann immer noch nicht zugegeben hatte, das Opfer gekannt zu haben, das war schon nicht mehr so leicht zu rechtfertigen. Wäre Ronnie Babcock nicht gerade unter Deck gewesen, hätte sie es ihm vielleicht gesagt, nachdem sie sich ein wenig gefangen hatte. Aber da war nur seine unerfahrene Detective Constable gewesen, die ihr über die Schulter geschaut hatte, also hatte sie erst einmal abgewartet und sich auf ihre Aufgabe konzentriert, hatte die noch frische Erinnerung an Annies lebhafte Mimik zu verdrängen versucht.
Und als dann Babcock endlich aus dem Bauch des Boots aufgetaucht war, hatte er einen groß gewachsenen Mann mit durchdringendem Blick bei sich gehabt, den er als einen Superintendent von Scotland Yard vorgestellt hatte. Niemand
hatte ihr erklärt, warum der Yard so schnell zu einem verdächtigen Todesfall in der Provinz hinzugezogen worden war, doch Altheas Herz hatte sich unwillkürlich zusammengekrampft.
Hätte sie zugegeben, dass sie vor kurzem noch mit Annie zu tun gehabt hatte, dann – so war ihr schlagartig klargeworden – hätte sie auch die Geschichte mit den Wains erklären müssen.
Aber nachdem sie nun ein paar Minuten Zeit zum Nachdenken gehabt hatte, begannen Zweifel sie zu bestürmen. War es ein bloßer Zufall, dass Annie Lebow einen Tag vor ihrer Ermordung einer Familie wiederbegegnet war, die sie seit ihrem Ausscheiden aus dem Sozialdienst nicht mehr gesehen hatte? War es möglich, dass Gabriel Wain etwas mit Annies Tod zu tun hatte? Und wenn ja, was könnte sein Motiv gewesen sein? Gabriel mochte Annies Hilfe nur widerwillig angenommen haben, aber Althea konnte sich nicht vorstellen, dass er ihr etwas angetan hatte.
Mit plötzlicher Ungeduld schob sie ihre Bedenken beiseite. Sie hatte versprochen, Rowan Wain zu helfen, und jetzt schien es wichtiger denn je, dass sie zu ihrem Wort stand. Auch wenn sie sich durch eine Phalanx von Polizisten kämpfen müsste, um auf das Boot zu gelangen – davon würde sie sich nicht abschrecken lassen. Und falls jemand sie fragte, was sie dort wolle, würde sie einfach die Wahrheit sagen. Sie machte einen Patientenbesuch.
Dennoch blickte sie sich vorsichtshalber um, bevor sie ausstieg, und erst als der Beamte, der die Brücke bewachte, ein Stück die Straße hinaufgegangen war, um seinen dort postierten Kollegen etwas zu fragen, holte sie den Sauerstoffbehälter aus dem Kofferraum und machte sich auf den Weg zum Boot. Warum unnötige Komplikationen riskieren?, sagte sie sich entschlossen, doch sie wurde das beunruhigende Gefühl nicht los, dass sie beobachtet wurde.
Obwohl Kincaid normalerweise nur ungern bei jemandem mitfuhr, den er nicht gut kannte, hatte er versucht, sich in dem bequem gepolsterten, lederbezogenen Beifahrersitz von Ronnie Babcocks BMW zu entspannen. Er sagte sich, dass er für die Gelegenheit dankbar sein sollte, die Landschaft zu genießen und den Kopf für die bevorstehende Zeugenbefragung frei zu bekommen.
Es war am Ende Gemma gewesen, die darauf bestanden hatte, dass er mit Babcock zu Roger Constantine fuhr. Gemma hatte recht – sie konnten sich nicht einfach davonstehlen und so tun, als sei nichts geschehen. Und in diesem Fall, so hatte sie argumentiert, wäre es nur sinnvoll, wenn er seine Beziehung zu Babcock ausnutzte, zumal Babcock selbst nichts dagegen zu haben schien. Er würde nur darauf achten müssen, sich auf seine Rolle als Beobachter zu beschränken, da er vermutete, dass es Babcocks Toleranz überstrapazieren würde, wenn er sich allzu aktiv in die Ermittlungen einmischte.
»Du sagtest doch, dieser Constantine sei Journalist?«, wandte er sich jetzt an Babcock. »Ich fragte mich gerade, wie groß unsere Chancen sind, ihn zu Hause anzutreffen.«
Babcock kniff die Augen zusammen, während er in seinem Gedächtnis kramte. »Ich glaube mich zu erinnern, dass Annie mal gesagt hat, ihr Mann schreibe für das Feuilleton einer großen Zeitung im Nordwesten. Klar, wir hätten versuchen können, ihn vorher anzurufen, aber wenn es sich irgendwie machen lässt, ziehe ich es immer vor, die schlechte Nachricht persönlich zu
Weitere Kostenlose Bücher