So will ich schweigen
Gemma sie. »Wenn es sich erst einmal herumgesprochen hat, was hier passiert ist, wird Ihr Lokal das Zentrum der Gerüchteküche sein, und dann müssen Sie sich auch darauf gefasst machen, dass Ihnen die Journalisten die Tür einrennen.«
»Auch wieder wahr.« Die Miene der Frau hellte sich auf, doch gleich darauf runzelte sie erneut die Stirn. »Dann hoffe ich bloß, dass die Vorräte reichen. Vielleicht sollte ich mich besser mal an die Arbeit machen.« Mit einem zerstreuten Nicken
ließ sie Gemma mit ihrem immer noch brühheißen Kaffee stehen.
»Danke!«, rief ihr Gemma verspätet nach. Als sie sich zum Wagen umdrehte, sah sie, dass Kits Kopf nach hinten gesunken war. Seine Augen waren geschlossen, die Lippen leicht geöffnet, die Züge entspannt wie nur bei Menschen, die vom Schlaf überrascht worden sind. Er sah genauso jung und wehrlos aus wie Toby, und eine leidenschaftliche, besitzergreifende Liebe schnürte ihr das Herz zusammen. Sie hätte alles getan, um ihn vor dieser Erfahrung zu bewahren. Noch ein solcher Verlust, noch ein solcher Schlag war wirklich das Letzte, was Kit in seinem noch so jungen Leben gebrauchen konnte.
Unschlüssig blieb sie stehen. Sie wollte ihn nicht wecken, indem sie zu ihm in den Wagen stieg, und so nippte sie nur an ihrem Kaffee und blickte zu den Booten auf dem Kanal hinüber. Wie sie da Bug an Heck aufgereiht lagen, erinnerten sie Gemma an die Parade der Zirkustiere in einem von Tobys Büchern.
Sie hatte solche Narrowboats schon auf dem Grand Union Canal gesehen, nicht weit von dem Supermarkt, in dem sie zu Hause immer einkaufte, aber sie hatte noch nie eines betreten. Sie hatten immer einen ganz besonderen Reiz auf sie ausgeübt, mit ihren Blumenkübeln auf den Dächern und den kreuz und quer übers Deck gespannten Wäscheleinen. Sie hatten so etwas liebenswert Verlottertes an sich, einen Hauch von Abenteuer und Aussteigertum.
Die meisten der Boote dort unten waren jedoch zum Schutz vor der Kälte eingemummt und zugeknöpft wie nüchterne alte Matronen. Einsam und verlassen lagen sie da; nur aus dem Schornstein eines der farbenfroheren Boote kringelte sich Rauch, und während sie es betrachtete, kam ein Mann aus der Kabine und blickte einen Moment lang umher, ehe er wieder hineinging.
Gemma drehte sich um, als sie eine Autotür hörte. Sie dachte, Kit sei aufgewacht, doch zu ihrer Überraschung sah sie die Rechtsmedizinerin wieder aus ihrem Wagen steigen. Diesmal aber hatte sie ihre Tasche dagelassen und schleppte stattdessen ein sperriges Gerät, in dem Gemma bei näherem Hinsehen einen Sauerstoffbehälter erkannte.
Die Ärztin überquerte ein zweites Mal den Kanal, doch am anderen Ufer wandte sie sich diesmal nach links anstatt nach rechts und ging zurück bis zu den Booten, die dicht gedrängt gegenüber dem Pub vor Anker lagen. Neben dem bunt bemalten Boot, das Gemma vorher schon aufgefallen war, blieb sie stehen und schien im Begriff zu rufen, doch ehe sie dazu kam, ging die Kabinentür auf.
Diesmal glaubte Gemma einen Blick auf ein kleines Mädchen mit lockigem Haar zu erhaschen. Die Ärztin kletterte unbeholfen an Bord und verschwand in der Kabine. Seit wann machten denn Rechtsmediziner Hausbesuche?, wunderte sich Gemma.
Sie zuckte zusammen, als sie eine Berührung an der Schulter spürte, doch da hörte sie schon Kincaids Stimme.
»’tschuldigung, Schatz, ich wollte dich nicht erschrecken. Du hast ausgesehen, als wärst du mit den Gedanken ganz weit weg.«
Sie drehte sich um und musterte sein Gesicht. Seine Stimme hatte ruhig und gelassen geklungen, doch sie hatte den wohlbekannten Unterton der Anspannung herausgehört. »War es schlimm?«, fragte sie mit einem Nicken in Richtung des Tatorts.
»Mmmh«, brummte er, was sie als ein Ja deutete. »Aber keine Anzeichen für eine Vergewaltigung, Gott sei Dank. Wenigstens der Anblick ist Kit erspart geblieben. Und nicht sehr viel Blut, bis auf die Lache unter dem Kopf. Aber …« Er brach ab, rammte die Hände so fest in die Jackentaschen, dass das
Futter zu zerreißen drohte, und wich ihrem Blick aus. »Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er nicht an seine Mutter gedacht hat, als er sie da liegen sah. Wie geht’s ihm?«
Gemma drehte sich zum Wagen um. Kit schien jetzt fest zu schlafen – sein Kopf lehnte nun an der Fensterscheibe, und Tess war von seinem Schoß auf den Fahrersitz geklettert. »Er ist erschöpft«, sagte sie. »Mindestens so sehr vom ständigen Sich-Zusammenreißen wie von allem anderen.
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