So will ich schweigen
Lebow habe sein Boot gerammt, weswegen sie sich ein bisschen in die Haare geraten seien. Er hat mir die Schramme gezeigt. Aber dann sagte er, sie habe sich erboten, für sämtliche Reparaturkosten aufzukommen, und sich bei ihm entschuldigt, und damit sei die Sache erledigt gewesen. Ich habe mir alles aufgeschrieben, aber es sah mir nicht nach einer Fehde aus, die damit enden könnte, dass einer dem anderen Tage später auflauert, um ihm eins über den Schädel zu ziehen.«
Kincaid runzelte die Stirn. »Er sagte, Annie habe sein Boot gerammt?«
»Ja. Als sie neben ihm anlegen wollte«, erläuterte Larkin. »Eine fette Schramme am Bug.«
»Das ist merkwürdig.« Kincaid rieb sich nachdenklich das Kinn und spürte schon die sprießenden Stoppeln. »Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie sie die Horizon manövriert hat, und ich hätte gesagt, dass sie eine sehr fähige Bootsführerin war.«
Als Gemma sich am Ende ihrer Exkursion wieder Barbridge näherte – nachdem sie Hecke und Zauntritt diesmal relativ ungeschoren hinter sich gebracht hatte -, hatte sie das Gefühl, dass die Kälte ihr bis in die Knochen drang. Sie war sich jedoch nicht sicher, wie viel von ihrem Unbehagen auf die physische Kälte zurückzuführen war und wie viel auf die Erinnerung an das klaffende Loch in der Wand des alten Viehstalls.
Nachdem der Sergeant nicht mehr da war, hatten die Männer vom Rückbautrupp nichts dagegen gehabt, dass sie sich in dem Gemäuer ein wenig umsah, solange sie nicht ihr Suchraster durcheinanderbrachte. Sie hatte sich nur so weit hineingewagt, bis sie die Stelle sehen konnte, wo Juliet die Kinderleiche gefunden hatte. Doch dieser eine Blick hatte genügt, um ihr klar zu machen, dass sie bei allem Mitgefühl für Juliet bis zu
diesem Moment nicht begriffen hatte, wie zutiefst erschütternd das Erlebnis für sie gewesen sein musste.
Ob Juliets Kunden, die geplant hatten, das alte Gemäuer in ein ruhiges, gemütliches Heim umzuwandeln, sich wohl jemals wieder für das Projekt würden begeistern können? Ob Juliet selbst je wieder Freude daran finden würde, es zu vollenden – vorausgesetzt, sie bekam die Gelegenheit dazu?
Es schien ein wenig milder geworden zu sein, und der leichte Temperaturanstieg hatte die Eiskügelchen des nachmittäglichen Schauers in feine Tröpfchen verwandelt, die Gemmas Kleider tränkten und ihr Haar benetzten. Es sah so aus, als würde die Abenddämmerung den dichten Nebel der vergangenen Nacht zurückbringen.
Bei dem Gedanken spürte Gemma urplötzlich ein Kribbeln zwischen den Schulterblättern, und die Härchen in ihrem Nacken richteten sich auf. Sie fuhr herum, wie schon mehrmals zuvor auf ihrem Rückweg vom Viehstall, doch da war niemand auf dem Leinpfad. Sie schüttelte sich und beschleunigte ihren Schritt. Schon konnte sie die geschwungene Form der Steinbrücke sehen; in wenigen Minuten würde sie sicher im warmen Auto sitzen und über ihren krankhaften Verfolgungswahn lachen.
Doch wenige Schritte vor den Stufen, die zur Straße hinaufführten, blieb sie stehen, gefangen genommen von dem Anblick, der sich ihr durch den verwitterten Bogen der Brücke hindurch bot. Ein kleines Mädchen, kaum älter als Toby, saß ein paar Meter hinter der Brücke am Kanalufer, zusammengekauert unter einem riesigen schwarzen Regenschirm. Es hielt eine Angelrute in der Hand und saß so reglos da, dass man glauben konnte, eine Skulptur vor sich zu haben.
Ein Boot lag ganz in der Nähe, seine Farben durch den Dunst gedämpft, doch Gemma erkannte es als dasjenige, dem die Rechtsmedizinerin am Morgen einen Besuch abgestattet
hatte. Neugierig geworden, beobachtete sie die Szene eine Weile, um dann langsam weiterzugehen, bis sie auf der anderen Seite unter der Brücke heraustrat.
Das Mädchen blickte auf, als es sie bemerkte. Sein blondes, lockiges Haar wirkte durch die Feuchtigkeit dunkler, doch nichts konnte das leuchtende Kornblumenblau der Augen trüben.
»Nicht gerade das beste Wetter zum Angeln, findest du nicht?«, fragte Gemma und blieb einige Schritte vor dem Mädchen stehen.
Das Kind betrachtete sie mit ernster Miene. »Papi sagt, im Regen beißen die Fische besser. Ich glaube, das ist, weil sie dann nicht mehr wissen, wo das Wasser aufhört und die Luft anfängt.« Sie war älter, als Gemma zunächst geglaubt hatte; die Lücke, die ihre ausgefallenen Milchschneidezähne hinterlassen hatten, begann sich schon wieder zu füllen.
Gemma trat ein wenig näher und ging so elegant, wie sie
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