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So will ich schweigen

So will ich schweigen

Titel: So will ich schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deborah Crombie
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weniger Interesse an Büchern.
    Wie hatte sie nur so dumm sein können? Und wie hatte sie all die Jahre über ignorieren können, wie tief sie ihre Schwiegereltern im Grunde verachtete? Rita mit ihren gefärbten Haaren und perfekten Frisuren, mit ihren schicken Joggingklamotten – wobei Juliet sich noch nie hatte vorstellen können, dass sie tatsächlich joggte oder sonst irgendetwas machte, was sie ins Schwitzen bringen könnte. Und Ralph – der darauf
bestand, dass man ihn Rafe nannte – mit seinem Schmerbauch und seinem schütteren Haar, der von seiner unwiderstehlichen Wirkung auf das weibliche Geschlecht überzeugt war und hemmungslos flirtete, sobald Rita ihm den Rücken kehrte.
    Die Newcombes waren von Anfang an entschlossen gewesen, ihren Ruhestand zu genießen. Sie hatten gleich ihr Haus in einem Vorort von Crewe verkauft und sich in Audlem niedergelassen, einem hübschen kleinen Städtchen nahe der Grenze zu Shropshire. Das Apartment war offen angelegt und zu klein, als dass die Kinder dort hätten übernachten können. Juliet war davon überzeugt, dass genau dies beabsichtigt war.
    Die Wahrheit war, dass ihre Schwiegereltern sich nicht von tobenden und lärmenden Enkeln stören lassen wollten – ja, sie hätten am liebsten gar nicht zugegeben, dass sie Enkel hatten , so hartnäckig weigerten sie sich, zu ihrem Alter zu stehen.
    Juliet hatte die Sauciere abgetrocknet und sie neben die Stapel von Tellern gestellt, die darauf warteten, zu der makellos gedeckten Tafel getragen zu werden. Als sie sich vom Spülbecken weggedreht hatte, war ihr Blick auf den kombinierten Wohn- und Essbereich gefallen. Caspar und sein Vater hatten es sich mit ihren Whiskys in der Sitzecke gemütlich gemacht, und aus dem monotonen Klang der Stimme ihres Schwiegervaters schloss Juliet, dass er wohl wieder eine seiner endlosen Golf-Anekdoten zum Besten gab. Sam hockte auf dem Boden vor dem ultrarealistischen künstlichen Kaminfeuer und zupfte stumm an seinen Schnürsenkeln herum. Und Lally … Lally saß mit untergeschlagenen Beinen zu Füßen ihres Vaters und hatte den Kopf auf sein Knie gelegt, damit er ihre Haare streicheln konnte.
    Und dann hatte Caspar aufgeschaut und war ihrem Blick begegnet. Der Hass in seinen Augen hatte Juliet getroffen wie ein Faustschlag ins Gesicht. Plötzlich wurde ihr schwindlig, ihr Herz hämmerte wie wild, sie glaubte keine Luft mehr zu bekommen,
kalter Schweiß bedeckte ihr Gesicht und ihre Arme und rann zwischen ihren Schulterblättern herab.
    Herzinfarkt , war ihr erster Gedanke. Sie hatte einen Herzinfarkt. Sei nicht albern , schalt sie sich sogleich – es war nur die überheizte Wohnung und ihre Wut auf Caspar. Aber dann überkam sie eine Welle der Übelkeit, und sie wusste, wenn sie nicht auf der Stelle die Wohnung verließ, würde sie sich tödlich blamieren.
    »Entschuldigung«, hatte sie in ihrer Verzweiflung gemurmelt. »Ich hab was vergessen. Im Auto. Bin gleich wieder da.« Sie hatte in die weißen, erstaunten Gesichter geblickt, die sich ihr zuwandten wie Seeanemonen in einer Meeresströmung, und dann war sie hinausgestürzt, die Treppe hinunter und zur Haustür hinaus, hatte gierig die kalte Luft eingesogen und war in die Dunkelheit hinausgerannt.
    An ihrem Auto angekommen, hatte sie sich dagegen gelehnt und nach Luft ringend die Fäuste an die Brust gepresst. Da spürte sie etwas Scharfes in ihrer Handfläche, und als sie hinsah, entdeckte sie, dass sie irgendwie – es schien ihr wie ein kleines Wunder – ihren Schlüsselbund geschnappt haben musste, als sie zur Tür hinausgestürmt war. Sie waren mit ihrem eigenen altersschwachen Vauxhall Vectra gekommen – Gott sei Dank, da in Caspars kleinem Sportflitzer kein Platz für die Kinder war. Und als sie dann die Tür aufschloss und auf den Fahrersitz glitt, da hatte sie das Gefühl, in einem sicheren Hafen angekommen zu sein.
    Im Wagen war es warm von der Sonne, und zuerst hatte sie nur eine Weile dort sitzen wollen, bis ihr Puls sich beruhigt hatte und ihr Kopf wieder klar war. Dann aber war ihr der Gedanke gekommen, dass jemand ihr nachgegangen sein könnte, und sie hatte gewusst, dass sie keinen Menschen in ihrer Nähe ertragen könnte, nicht einmal ihre Kinder – nicht, ehe sie sich wieder gefangen hatte.

    Und so war sie losgefahren, aber sie hatte sich noch immer nicht wieder gefangen, auch jetzt nicht, in einer fremden Straße im Auto, vor einem Haus, in dem irgendeine andere Familie wohl gerade beim Weihnachtsessen saß.

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