So will ich schweigen
für Kit aber war diese Möglichkeit real und stets gegenwärtig. In Kits Welt war es eben nicht selbstverständlich, dass eine Mutter, die ihre Kinder allein ließ, wieder zurückkam. Und eine solche Belastung war das Letzte, was der Junge in diesem Moment gebrauchen konnte.
Während er innerlich seine Schwester verfluchte, sagte Kincaid: »Wir wollen doch nicht gleich die Pferde scheu machen, Mutter. Wir wissen, dass sie den Wagen genommen hat. Sie ist sicher nur heimgefahren und hat sich in ihren Schmollwinkel zurückgezogen, und du tust ihr wahrscheinlich keinen großen Gefallen, wenn du dich einmischst. Du wirst sehen, sie ruft sicher bald an. Und jetzt gehen Gemma und ich mit den Jungs erst mal ein bisschen spazieren, solange es noch hell ist. Auf die Queen können wir doch gut verzichten, was?«, fügte er mit einem Zwinkern in Kits Richtung hinzu. In der Familie waren sich alle einig, dass die Weihnachtsansprache der Königin das perfekte Schlafmittel war.
Gemma deutete mit dem Kopf auf Toby, der einen Arm um den Cockerspaniel geschlungen hatte, die Augenlider schon auf halbmast. »Geh du nur mit Kit«, sagte sie leise. »Ich bleibe mit Toby hier und leiste deinen Eltern Gesellschaft.«
Tess, Kits kleiner Terrier, legte erwartungsvoll den Kopf schief. »Lass sie hier«, sagte Kincaid leise, um Toby nicht zu stören, und Kit gab der Hündin ein Zeichen, liegen zu bleiben. Auf leisen Sohlen schlichen sie in die Diele, nahmen ihre Jacken vom Haken und zogen vorsichtig die Haustür hinter sich zu, wie zwei Diebe in der Nacht. Die Landschaft lag immer noch unter einer hellen Schneedecke, aber das Licht war schon weicher, ein Vorbote der früh hereinbrechenden Dunkelheit. Der süßlich-herbe Geruch von Holzrauch lag in der Luft und kratzte Kincaid im Hals.
Wortlos ging er voraus, um das Haus herum und weiter über den Fußpfad, der die Wiese seiner Eltern durchquerte. Auch nach all den Jahren noch schienen seine Füße jede Erhebung und jede Senke auf diesem Grundstück zu kennen, und er fand es erstaunlich, wie wenig sich hier auf dem Land verändert hatte, seit er nach London gegangen war. Einmal blickte er sich um, doch das Haus war schon hinter seinem Schutzwall aus Bäumen verschwunden.
Kit stapfte neben ihm durch den Schnee und setzte bedächtig einen Fuß vor den anderen, als wäre jeder einzelne Stiefelabdruck von enormer Bedeutung. Und er schien ebenso entschlossen, jeden Blickkontakt mit seinem Vater zu vermeiden. Nach einer Weile aber sagte er: »Willst du mir denn keine Standpauke halten?«
»Hatte ich eigentlich nicht vor.« Kincaid schlug bewusst einen lockeren Ton an. Nach der lautstarken Auseinandersetzung von gestern Morgen war ihm klar geworden, dass es jetzt erst einmal darum ging, wieder mit seinem Sohn ins Gespräch zu kommen. »Willst du denn eine hören?«
Damit erntete er einen verblüfften Blick. »Äh, nee, eigentlich nicht.«
»Magst du mir denn stattdessen vielleicht erzählen, was da in der Schule los ist?«, fragte Kincaid immer noch ganz beiläuf ig.
Kit zögerte so lange, dass Kincaid schon glaubte, er werde gar nicht antworten, doch endlich sagte er: »Nicht jetzt. Heute jedenfalls nicht mehr.«
Kincaid nickte. Er verstand, was Kit nicht in Worte fassen konnte. Nach einer Weile tätschelte er die Schulter des Jungen. »Waren doch schöne Weihnachten.«
»Super«, bestätigte Kit. Jetzt beschleunigte der Junge seinen Schritt und schwang die Arme, als hätte er endlich die Erlaubnis bekommen, den Spaziergang zu genießen. Die Anspannung war von ihm abgefallen, und plötzlich wirkte er wie ein ganz normaler Junge, auf dessen Schultern nicht das ganze Gewicht der Welt lastete – so normal, wie ein Dreizehnjähriger eben sein konnte, dachte Kincaid.
Sie gingen weiter, und das Schweigen war jetzt beinahe wie ein Band, das sie beide verknüpfte. Die Kälte und die körperliche Anstrengung ließen kreisrunde rote Flecken auf Kits Wangen aufblühen. Schließlich erreichten sie den höchsten Punkt einer kleinen Erhebung und erblickten vor sich den gewundenen Lauf des Kanals wie ein versunkenes Riesenhalsband, das jemand achtlos über die liebliche Landschaft von Cheshire geworfen hatte.
Kit blieb stehen. Er schien verwirrt und suchte den Horizont ab, als wolle er sich orientieren. »Komisch, ich dachte – gestern Abend hat es so ausgesehen, als würde der Kanal an der Hauptstraße entlang verlaufen.«
»Tut er auch.« Kincaid bückte sich und zeichnete zur Erläuterung eine
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