So will ich schweigen
Sie schluckte krampfhaft, als die Übelkeit in ihrer Kehle aufstieg. Das Bild von Lally, wie sie am Knie ihres Vaters gelehnt und sie unwillig angestarrt hatte wie eine störende Fremde, war tief in ihr Gehirn eingebrannt.
Verzweiflung packte sie. Sie würde ihre Kinder verlieren, wenn sie nicht aus dieser Ehe ausbrach; schon jetzt drohte Lally ihr zu entgleiten. Caspar stachelte ihre Kinder gegen sie auf, wie Piers ihn selbst aufgestachelt hatte, und sie musste ohnmächtig zusehen. Caspar war schwach, leicht zu beeinflussen, aber Piers … sie wusste jetzt, was Piers für ein Mensch war; sie hatte gesehen, was sich hinter seiner charmanten Fassade verbarg, und das war ihr Ruin gewesen. Der Hass strömte durch ihre Adern, scharf und ätzend wie Säure, mit einer Intensität, die ihren ganzen Körper durchschüttelte. Einen kurzen Moment lang krampfte sich ihr Herz derart zusammen, dass sie glaubte, es müsse stehen bleiben.
Aber dann sank sie langsam in den Sitz zurück. Ein Gefühl der Ruhe durchfloss sie, und alles schien plötzlich verblüffend klar. Die Finger, mit denen sie den Schlüsselbund im Zündschloss berührte, schienen empfindsam wie die eines Neugeborenen.
Caspar saß in Audlem fest, bis er sich demütigte, indem er seine Eltern bat, ihn nach Hause zu fahren. Piers, das hatte Caspar ihr mehr als einmal gesagt, verbrachte den Tag in Chester bei seinem Vater, einem Rechtsanwalt im Ruhestand. Sie hatte die Schlüssel zum Büro und die Freiheit zu tun, was immer sie wollte, ohne dass jemand sie beobachtete. Es war an der Zeit, dass sie Piers Dutton zur Rechenschaft zog.
Das Stadtzentrum war wie ausgestorben, die Läden und Cafés verriegelt und verrammelt. Es war eine Bilderbuchszenerie, vergoldet vom Schein der Nachmittagssonne. Wie Puderzucker auf einem Lebkuchenhaus lag eine feine Schneeschicht auf den Dächern, und alles war noch unberührt von der chaotischen Unberechenbarkeit menschlicher Aktivität.
Juliet überquerte den freien Platz direkt vor dem Büro von Newcombe & Dutton und parkte vorsichtshalber ein paar Straßen weiter. Sie nahm keinen Mantel mit, und als sie zu Fuß zum Monk’s Way zurückging, musste sie bald feststellen, wie trügerisch das klare goldene Licht des Nachmittags war. Die Kälte drang beißend durch ihre dünne Bluse, und als sie das Büro erreichte, klapperte sie mit den Zähnen. Sie rieb sich die steif gefrorenen Finger, bis sie wieder genug spüren konnte, um den Schlüssel ins Schloss stecken zu können.
Drinnen blieb sie erst einmal stehen. Sie zitterte am ganzen Leib, aber es war nicht nur die Kälte. Sie konnte das Blut in ihren Ohren pulsieren hören, und ihr Herz schlug gegen die Rippen, als wäre sie gerade einen Marathon gelaufen.
Die halb offenen Jalousien filterten das einfallende Licht, und die Lampe auf dem Sideboard an der Rückwand des Empfangsbereichs war eingeschaltet. Es herrschte eine unheimliche Stille, und der Raum roch leicht nach Aftershave und Ledermöbeln. Wie merkwürdig, dass ihr der Geruch zuvor nie aufgefallen war – lag es daran, dass Piers’ Einfluss seit ihrem Weggang stärker geworden war?
Sogleich verwarf sie den albernen Gedanken wieder. Sie war schon unzählige Male allein im Büro gewesen, und es war alles genau wie sonst. Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen, und schloss die Tür ab. Schließlich wollte sie nicht riskieren, dass irgendjemand unverhofft hereinspaziert kam.
Da fiel ihr plötzlich ein, dass sie mit ihrem Tun gegen das Gesetz verstieß. Was ihr Bruder wohl davon halten würde?
Die Vorstellung entlockte ihr ein Lächeln, und sie fühlte sich mit einem Mal viel besser.
Nach kurzer Überlegung steuerte sie ihren Schreibtisch – ihren ehemaligen Schreibtisch – an und kramte in der Schublade nach einer Büroklammer. Seit ihrem Weggang waren Piers und Caspar ohne Sekretärin ausgekommen – sie nahm an, dass Piers die Gefahr, ertappt zu werden, nicht ein zweites Mal heraufbeschwören wollte -, und das Fehlen einer ordnenden Hand war dem Inhalt der Schublade deutlich anzusehen. Schließlich fand sie jedoch, was sie gesucht hatte, und bog den Silberdraht sorgfältig gerade.
Eine ungeahnte Erregung hatte sie erfasst, ein berauschendes Pulsieren in den Adern, das sie entfernt an ihre Kindheit erinnerte, wenn sie mit Duncan irgendwelche Streiche ausgeheckt hatte.
Caspars Büro war rechts, das von Piers links. Ohne eine Sekunde zu zögern, wandte Juliet sich nach links.
»Ist wirklich ein Prachtstück,
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