So will ich schweigen
Ihr Boot!«, rief Kincaid der blonden Frau zu und deutete mit dem Kopf auf die Lost Horizon mit ihren langen, elegant geschwungenen Linien. »Sie müssen James Hilton gelesen haben«, meinte er in Anspielung auf den Namen des Boots.
Im ersten Augenblick zeigte ihre Miene noch die argwöhnische Wachsamkeit, die ihm am Abend zuvor aufgefallen war. Doch während sie ihn und Kit studierte, entspannten sich ihre Züge sichtlich, und sie antwortete: »Ja. Das ist allerdings schon Jahre her. Aber die Idee von Shangri-La hat mir immer gefallen.«
»Waren Sie nicht gestern Abend in der Kirche?«, fragte Kit und überraschte damit Kincaid, der nicht geglaubt hatte, dass diese etwas sonderbare, aber auf ihre Weise attraktive Frau noch jemandem außer ihm aufgefallen war. Und es sah Kit gar
nicht ähnlich, sich so schnell ins Gespräch mit Fremden einzuschalten.
»In St. Mary’s? Ja, stimmt.« Die Frau sah Kincaid an und nickte fast unmerklich, als wollte sie ihm zu verstehen geben, dass sie den flüchtigen Blickkontakt nicht vergessen hatte. »Es war eine sehr schöne Messe. Aber für Sie ist das wohl nichts Besonderes, nehme ich an.« Kincaid war sich nicht ganz sicher, wie er den Unterton ihrer Stimme einordnen sollte – war es Neid?
»Wir sind nur über die Feiertage hier«, erklärte er. »Aber ich bin in der Gegend aufgewachsen. Hat sich nicht viel verändert.«
Sie hatte die Doppeltür der Kabine halb offen gelassen, und Kincaid merkte, wie Kit sich zur Seite lehnte, um einen Blick ins Innere des Boots zu erhaschen. Als er dem Jungen die Hand auf die Schulter legte und ihn schon halb zum Weitergehen drängen wollte, ehe sie die Privatsphäre der Frau noch weiter verletzten, fragte Kit plötzlich: »Wohnen Sie eigentlich auf dem Boot?« Sein Gesicht strahlte vor Wissbegier.
»Kit, das geht uns wirklich nichts an«, warf Kincaid hastig ein. Er packte die Schulter des Jungen und drehte ihn zum Leinpfad um. Unter dem gefütterten Anorak spürte er kräftige Muskeln und starke Knochen. An die Frau gewandt, fügte er hinzu: »Entschuldigen Sie. Wir sollten wohl besser …«
»Nein, das ist schon in Ordnung.« Sie lächelte, wobei ein paar der Sorgenfalten aus ihrem Gesicht verschwanden, und es schien, als hätte sie einen Entschluss gefasst. »Ja, ich lebe an Bord. Möchtest du dir das Boot anschauen? Ich heiße übrigens Annie. Annie Lebow.«
Kincaid stellte sich und Kit vor und fügte hinzu: »Sind Sie sicher? Wir möchten Ihnen keine Umstände …«
»Nein, wirklich, es ist kein Problem. Nett von Ihnen, dass Sie fragen. Manchmal kommt man sich schon vor wie in einem
Goldfischglas. Die Leute glotzen einem vom Ufer aus in die Fenster und denken sich gar nichts dabei.« Sie wandte sich an Kit und fragte: »Warst du schon mal auf einem Kanalboot?«
»Nein, aber ich habe schon viele gesehen. Der Grand Union Canal verläuft direkt hinter dem Supermarkt, wo wir zu Hause immer einkaufen. In London«, fügte er hinzu und errötete ein wenig, als er merkte, wie interessiert sie ihm zuhörte. »In Notting Hill. Der Supermarkt ist gegenüber vom Kensal Green Cemetery, gleich am anderen Kanalufer.«
»Ah, ja«. Annie Lebow nickte. »Der Paddington-Arm. Kein schlechter Liegeplatz. Ich habe mal ein paar Wochen dort verbracht.«
»Mit diesem Boot? Sie sind mit diesem Boot bis nach London gefahren?«
»Ja, wir haben schon einiges von England gesehen, die Horizon und ich. Ich kann dir eine Karte der Wasserwege zeigen, wenn es dich interessiert. Kommen Sie doch beide an Bord, und wenn du dich ein bisschen umgesehen hast, mache ich uns eine Tasse Tee.«
Kincaid ließ Kit zuerst an Bord steigen. Als der Junge vom Leinpfad ans Ufer trat und behände auf das Vorderdeck sprang, fiel Kincaid auf, wie lang seine Beine waren. Wann war er nur so in die Höhe geschossen?
»Der Rumpf ist natürlich aus Stahl«, erklärte Annie gerade. »Reine Holzboote wurden zuletzt kurz nach dem Krieg gebaut. Die Horizon ist achtundfünfzig Fuß lang, nicht siebzig wie die meisten anderen, aber auch nur sieben Fuß breit. Die traditionellen Boote hatten meistens siebzig Fuß, aber es gibt Schleusen, die für so ein langes Boot zu eng sind, sodass man mit einem Siebzig-Fuß-Boot in seiner Bewegungsfreiheit ein bisschen eingeschränkt ist.«
Während sie sprach, führte sie die beiden durch die Doppeltür und über zwei Stufen hinunter in die Hauptkabine.
Kincaid duckte sich instinktiv – die niedrige Decke war nur wenige Zentimeter über seinem Kopf
Weitere Kostenlose Bücher