So will ich schweigen
Augen sich an das Halbdunkel zu gewöhnen begannen, konnte er hier und da helle Flecken ausmachen, Reste des Schnees der vergangenen Nacht, die wie fremdartige Pilze auf dem matschigen Untergrund des Leinpfads wucherten.
Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen, bis er unter sich den Kanal selbst erblickte. Es war windstill, und er sah kein Spiegelbild – er hätte ebenso gut in einen bodenlosen, tiefschwarzen Abgrund blicken können. Das Gefühl war auf merkwürdige Weise erregend, wie ein flüchtiger Blick in ein anderes Universum, und eine Art Besitzerstolz ergriff ihn. Dies hier war sein Geheimplatz – hier hatte er Macht, und das Wissen darum beruhigte ihn.
Es geschahen Dinge, die er nicht vorhergesehen hatte, und wenngleich er nicht glaubte, dass von irgendwoher echte Gefahr drohte, machte es ihn nervös, wenn die Ereignisse seiner Kontrolle entglitten. Er griff in die Innentasche seines Mantels, zog die gewölbte silberne Flasche hervor und nahm einen kleinen Schluck, dann noch einen. Alkohol, das hatte er bald herausgefunden, war eine geniale Erfindung. Die richtige Dosis machte ihn locker, versetzte ihn in einen Zustand traumwandlerischer Überlegenheit, in dem er Zeit und Geschehnisse nach Belieben manipulieren konnte. Ein Dahinfließen, so empfand er es, in dem die Ideen, die in seinem Kopf entstanden, mit seinen Emotionen zu einer vollkommenen Einheit verschmolzen.
Aber er trank nie zu viel. Langsam und bedächtig setzte er den Deckel wieder auf die Flasche und schraubte sie fest zu. Er konnte es sich nicht leisten, benebelt zu sein, gerade jetzt, wo er vielleicht unverhofft zu einer Entscheidung gezwungen würde. Und er wollte auch kein Jota von dieser intensiven Erfahrung einbüßen, wollte sie in aller Klarheit und Deutlichkeit im Gedächtnis bewahren. Seine Erinnerungen waren wie die Perlen, die er in seiner Tasche aufbewahrte, kostbare Schätze, die er immer wieder hervorholen konnte, um sich daran zu weiden.
Und so beherrschte er sich und bemaß seine Rationen sorgfältig, als wäre es Medizin. Nur ein Mal hatte er kurz die Kontrolle verloren, und das nur, weil er nicht geahnt hatte, wie berauschend es sein konnte, einen Menschen zu töten.
Gemma hatte beobachtet, wie Rosemary in der halben Stunde, seit Kincaid und Kit zu ihrem Spaziergang aufgebrochen waren, immer nervöser geworden war. Sie hatten rasch das restliche Geschirr gespült, während Hugh sich zur Hintertür hinausgeschlichen und irgendetwas von Holzhacken gemurmelt hatte. »Das ist sein Refugium, wenn ihn irgendetwas bedrückt«, hatte Rosemary ihr zugeflüstert, »der Holzschuppen.«
Jetzt saßen sie am Küchentisch, vor sich ihre unberührten Teetassen, während Toby immer noch auf dem Hundeplatz vor dem Ofen schlief. Er sah wirklich aus wie ein kleiner Engel, mit seinen rosigen Backen und dem zerzausten strohblonden Haarschopf, einen Arm über den Rücken des duldsamen Cockerspaniels gelegt. Der Border Collie und der Terrier waren ein Stück zur Seite gerückt und schienen ein wenig indigniert angesichts der Beschlagnahme ihres warmen Ruhekissens.
»Nur gut, dass er nicht allergisch gegen Hundehaare ist«, meinte Rosemary, während sie den Jungen betrachtete. »Sind sie nicht süß, wenn sie schlafen? Als Duncan und Juliet klein
waren, bin ich immer zu ihnen ins Zimmer gegangen, wenn sie gerade eingeschlafen waren, und habe ihnen eine Weile zugesehen – jeden Abend, ganz egal, wie schwierig sie gewesen waren oder wie erschöpft ich selbst war. Das hat mir geholfen, die Dinge in die richtige Perspektive zu rücken. Damit war natürlich Schluss, als sie anfingen, ihre Schlafzimmertüren abzuschließen«, fügte sie trocken hinzu. »Und auch dann sagst du dir noch, wenn sie erst einmal groß sind, musst du dir keine Sorgen mehr um sie machen.« Sie sah blass aus, und Gemma hatte den Eindruck, dass die Falten um ihre Nase und ihren Mund tiefer geworden waren.
»Das ist sonst nicht Juliets Art, oder?«, fragte Gemma leise. »Einfach zu verschwinden, ohne irgendjemandem Bescheid zu sagen. Und die Kinder zurückzulassen.« Es hatte ihr gar nicht gefallen, wie Duncan das unerklärliche Verschwinden seiner Schwester abgetan hatte, und auch nicht, wie er von seinen Eltern verlangt hatte, es einfach zu ignorieren. Natürlich kannte sie Juliet längst nicht so gut wie er, doch sie schien ihr eine verantwortungsbewusste Mutter zu sein – und eine verantwortungsbewusste Mutter ließ ihre Kinder nicht einfach während des
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