So will ich schweigen
Junge über den Leinpfad auf mich zugelaufen. Seine Kleider waren nass. Er hätte mich beinahe umgerannt, und er sah irgendwie … wild aus. Gehetzt. Aber ich hätte nie gedacht … Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass es sich um irgendetwas Ernsteres als einen Streich unter Jugendlichen handeln könnte. Ich bin noch an diesem Abend bis Barbridge weitergefahren und am nächsten Morgen früh aufgebrochen, um den Llangollen hinunterzuschippern, und so habe ich erst einige Wochen später gehört, was passiert ist. Wenn ich das gewusst hätte …« Sie schüttelte sich und verschränkte die Arme vor der Brust, und nun merkte auch Kincaid, dass die Temperatur mit der untergehenden Sonne spürbar zu sinken begann. Er konnte die Feuchtigkeit geradezu riechen, die in Schwaden vom Wasser aufstieg.
»Sie hätten unmöglich wissen können, was passieren würde«, versicherte er der Frau. Er schüttelte den Kopf. »Schlimme Sache, wirklich. Meine Nichte hat den Jungen wohl gekannt. Er war auf ihrer Schule.«
»Ist sicher nicht leicht für sie«, meinte Annie. »Hat sie …«
»Das ist genial!«, rief Kit, der gerade über die andere Seite zurückkam, und hinderte Annie so daran, ihre Frage zu stellen. Er bewegte sich jetzt beinahe im Laufschritt, so sicher und elegant wie ein Seiltänzer.
»Ich meine Ihr Boot – das ist echt genial«, wiederholte er, als er die beiden erreicht hatte. »Ist es leicht zu steuern? Und wie schaffen Sie das mit den Schleusen, so ganz ohne Hilfe?«
Annie antwortete mit nachsichtiger Geduld. »Die meisten Leute neigen dazu, zu stark zu korrigieren, wenn sie das erste Mal steuern, aber nach und nach bekommt man ein Gefühl dafür. Und was die Schleusen betrifft – wenn man allein ist, dauert’s ein bisschen länger, aber auch daran gewöhnt man sich. Und oft helfen einem andere Bootsleute oder Passanten.«
Dann schien sie kurz zu zögern, wie sie es getan hatte, bevor sie sie an Bord gebeten hatte, doch als sie in Kits vor Begeisterung glühendes Gesicht blickte, zuckte sie kaum merklich mit den Achseln und fuhr rasch fort: »Also, du kannst gerne noch mal vorbeischauen, wenn du magst. Wir könnten bis Hurleston Junction fahren, durch die Schleusen. Und du könntest sogar ein bisschen steuern.« Mit einem Blick auf Kincaid fügte sie hinzu: » Mit deinem Papa natürlich – und mit deiner Mutter, wenn sie Lust hat.«
Ohne sich anmerken zu lassen, dass er die Erwähnung seiner Mutter registriert hatte, sah Kit fragend zu seinem Vater auf. Sein Blick war so erwartungsvoll. »Geht das?«, fragte er. »Können wir noch mal herkommen? Wie wär’s mit morgen?«
Kincaid erinnerte sich, dass seine Mutter ihm gesagt hatte, sie hätten für den zweiten Weihnachtstag für die ganze Familie einen Tisch im Barbridge Inn reserviert, einem Pub am Kanal ganz in der Nähe von Annies Liegeplatz. »Ich denke, das könnten wir deichseln«, sagte er. Um Kit nicht zu enttäuschen, wäre er auch bereit gewesen, die Pläne für den Tag zu ändern.
Dennoch fand er es ein wenig bedenklich, dass Kit sich in Gesellschaft von Erwachsenen wohler zu fühlen schien als zum Beispiel mit seiner Cousine und seinem Cousin. »Das ist sehr nett von Ihnen«, setzte er an Annie gewandt hinzu. »Wenn Sie ganz sicher sind …«
»Ich tu’s ja nicht aus Freundlichkeit, sondern aus purem Egoismus«, meinte Annie mit einem Grinsen in Kits Richtung. »Ich bekomme nicht oft eine Gelegenheit, zukünftige Bootsleute zu indoktrinieren. Aber Sie sollten sich in Acht nehmen – ehe Sie sich’s versehen, müssen Sie für Ihre ganze Familie Ferien auf einem Kanalboot buchen.«
»Ferien? Echt?«, rief Kit. »Wo kann man …?«
»Genug jetzt.« Kincaid schob seinen Sohn leicht in Richtung Ufer. »Wir müssen jetzt wirklich los. Gemma und deine Oma schicken sicher schon die Hunde nach uns aus.«
Er dachte nicht nur an das schwindende Tageslicht – der Gedanke an die Pläne für den nächsten Tag hatte ihm auch seine Schwester wieder in Erinnerung gerufen. Die Sorgen, die in seinem Unterbewusstsein geschwelt hatten, kamen jetzt wieder hoch und plagten ihn.
Hatte er Juliets Verschwinden aus dem Haus ihrer Schwiegereltern zu leichtfertig abgetan? Er hatte Gemma gebeten, ihn anzurufen, sollten sie von Jules hören, doch er wusste, dass das Handynetz so weit weg von der Stadt lückenhaft war, und es war möglich, dass ihm ein Anruf entgangen war. Er konnte es plötzlich kaum erwarten, zum Haus zurückzukehren.
Kit sah zu ihm auf, und da
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