So will ich schweigen
hieß Kit, genau wie du. Kit Gayford. Du solltest mal etwas über sie lesen.«
»Bleiben Sie länger hier?«, fragte Kincaid, und er sah ihr kurzes Zögern, bevor sie antwortete.
»Ein paar Tage, denke ich. Ich habe keinen festen Zeitplan. Das ist einer der Vorteile des Kanallebens. Und Sie?«
»Nur bis Neujahr. Mein Job bietet keine solchen Vorteile.«
»Was machen Sie denn?«
»Ich bin Beamter im Öffentlichen Dienst«, antwortete Kincaid rasch und bemerkte Kits überraschten Blick. »Ziemlich langweilig eigentlich.«
Er versuchte herauszufinden, was es genau war, das ihn veranlasst hatte, mit der Wahrheit hinterm Berg zu halten. Es war nicht etwa so, als ob er Annie Lebow irgendwelcher krimineller Machenschaften verdächtigte – was das betraf, hatte er ein sehr feines Gespür -, doch er nahm immer noch eine gewisse Scheu bei ihr wahr, eine ängstliche Wachsamkeit, und er wollte die fragile Verbindung, die sie zu ihr aufgebaut hatten, nicht gef ährden.
Aber selbst seine unverfängliche Antwort schien sie zu erschrecken. Sie starrte ihn einen Moment lang an, und die Pupillen in ihren grünen Augen weiteten sich. Dann trat sie einen Schritt zurück und begann die Karte zusammenzufalten, ohne Kincaid und Kit noch einmal anzusehen. Kincaid hatte das deutliche Gefühl, dass um sie herum Schutzgitter herunterrasselten und Alarmglocken zu läuten begannen, und die freundschaftliche Stimmung, die noch vor wenigen Augenblicken geherrscht hatte, verflog wie Rauch im Wind.
Nachdem Annie die Karte an ihren Platz im Regal zurückgesteckt hatte, nahm sie ihren Tee, den sie kaum angerührt hatte, und stellte den Becher ins Spülbecken in der Kombüse. Die Botschaft hätte nicht klarer sein können.
»Äh, ich denke, wir müssen dann mal los«, sagte Kincaid in das ungemütliche Schweigen hinein. Als er aufstand, fiel sein Blick auf das Fenster, und es lieferte ihm einen akzeptablen
Vorwand. »Die Sonne geht bald unter. Wenn wir nicht aufpassen, müssen wir im Dunkeln nach Hause tappen. Danke für den Tee und Ihre Gastfreundschaft.«
Kit schien enttäuscht, stellte aber dennoch klaglos seinen Tee in der Kombüse ab.
»Ich hasse diese Winternachmittage, sie sind so verdammt kurz«, murmelte Annie, fast so, als spreche sie mit sich selbst. Sie stand an der Spüle und ließ Wasser über die Becher laufen, während Kincaid und Kit ihre Jacken anzogen, doch nachdem sie sich fertig eingepackt hatten, trocknete sie sich die Hände an einem Geschirrtuch ab und begleitete sie aufs Vorderdeck.
Die blassblaue Himmelskuppel hatte einen rosigen Schimmer angenommen, und die leichte Brise hatte sich gelegt. In der vollkommen reglosen Luft schien das Spiegelbild des Boots im Wasser des Kanals zum Greifen nah und zugleich verlockend fern. Kincaid hatte sich gerade umgedreht, um ihrer Gastgeberin noch einmal zu danken, als Kit ihm zuvorkam.
»Kann ich noch sehen, wo man das Boot steuert, bevor wir gehen?«
»Kit, ich glaube nicht …«
»Nein, es ist schon in Ordnung«, sagte Annie, deren Stimmung wieder umzuschlagen schien. »Du kannst außen herumgehen. Das nennt man das Dollbord – aber pass auf, dass du nicht ausrutschst. Der Kanal ist nicht besonders tief, aber das Wasser ist sehr kalt. Da bist du schneller erfroren, als du denkst.«
»Ich fall schon nicht rein.« Kit grinste Annie und Kincaid zu und wandte sich ab, um mit seinen Turnschuhen leichtfüßig und sicheren Schritts über den schmalen Grat des Dollbords zum Heck zu gehen. Dabei hielt er einen Arm ausgestreckt und fuhr mit den Fingerspitzen an der Kante des Bootsdachs entlang.
Kincaid blieb fast die Luft weg, doch da hörte er Annie an
seiner Seite leise kichern. »Er ist ein Naturtalent. Und es hilft natürlich, wenn man jung ist.«
Als Kit das Heck erreicht hatte und ins Hinterdeck sprang, sagte Kincaid: »Trotzdem, es kann immer mal was passieren. Meine Schwester hat mir erzählt, dass irgendwo in diesem Abschnitt des Kanals vor kurzem ein Junge ertrunken sei. Er muss in Kits Alter gewesen sein.«
»Ist das krumme Ding hier das Steuer?«, rief Kit, die Hand schon auf dem schwanenhalsförmigen Holz.
»Ja, aber wir sagen Ruderpinne dazu«, antwortete Annie, während Kit schon munter im Heck herumstöberte und die Leinen und Fender begutachtete.
Und dann sagte sie leise: »Ich habe ihn möglicherweise gesehen, diesen Jungen, der ertrunken ist. Ich hatte nicht weit von hier angelegt, in der Nähe des Hurleston-Reservoirs. Es wurde gerade dunkel, da kam ein
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