So will ich schweigen
er die Ungeduld seines Vaters zu spüren schien, dankte er Annie Lebow mit vorbildlicher Höflichkeit.
»Also dann, bis morgen«, rief sie freundlich, als die beiden auf den Leinpfad sprangen.
Doch als sie schon losgegangen waren, blickte Kincaid sich aus einem plötzlichen Impuls heraus noch einmal um. Annie
stand am Bug der Horizon und sah ihnen nach. Dabei hielt sie sich so still, dass man hätte meinen können, sie sei in einem Eisblock eingefroren. In ihrer reglosen Haltung lag eine geradezu unheimliche Intensität.
Dann aber löste sie sich aus ihrer Starre und hob die Hand zu einem Abschiedsgruß. Er winkte zurück und schalt sich selbst für seine überbordende Fantasie. Doch als er weiterging, sah er immer noch ihr Bild vor sich, als hätte es sich in seine Netzhaut eingebrannt.
Annie Lebow strahlte eine Menge Selbstvertrauen und Sicherheit aus, wenn sie sich an Bord ihres Boots bewegte, und die Begeisterung, mit der sie über das Leben auf dem Kanal sprach, war unüberhörbar. All das vermittelte das Bild einer Frau, die ihren Platz im Leben gefunden hatte. Aber darunter nahm er eine tiefe Melancholie wahr, die dunklen Schatten einer unerfüllten Sehnsucht. Was war es, das ihr verweigert worden war – oder was hatte sie sich selbst verweigert?
Die Schlösser von Piers’ Schubladen zu knacken war einfacher gewesen, als sie gedacht hatte. Seine Unterlagen zu sichten erwies sich als umso schwieriger. Nicht etwa, weil keine Ordnung geherrscht hätte – im Gegenteil, alles war fein säuberlich sortiert und abgeheftet und scheinbar vollkommen korrekt.
Nachdem sie sich einen schnellen Überblick verschafft hatte, nahm sie sich die erste Kundenakte vor. Sorgfältig ging sie sämtliche Belege über Aktienkäufe und Investmentfonds einschließlich der dazugehörigen Korrespondenz durch, ehe sie sich dem nächsten dicken Ordner zuwandte.
Bald war sie so in ihre Nachforschungen versunken, dass sie nicht merkte, wie die Zeit verging, und erst als sie einmal abwesend zum Fenster schaute, fiel ihr auf, dass das Licht zu schwinden begann. Sie atmete einmal tief durch, um die aufsteigende Panik zu unterdrücken, und griff nach der nächsten
Akte. Sie konnte jetzt nicht einfach aufhören – noch nicht. Unruhe erfasste sie. Sie würde vielleicht nie wieder eine solche Chance bekommen.
Auf der Straße schlug eine Autotür zu, und Juliet zuckte derart zusammen, dass die Papiere quer über den Schreibtisch flatterten. Juliet lauschte, aber es waren keine Schritte zu hören, die sich dem Büro näherten. Sie schloss die Augen und wartete einen Moment, bis ihr rasender Puls sich beruhigt hatte. Noch ein paar Minuten, dann würde sie von hier verschwinden.
Und dann, als ihr Blick über die verstreuten Blätter auf der grünen Schreibunterlage glitt, sprang ihr plötzlich etwas ins Auge. Der Name des Emittenten kam ihr bekannt vor – es war ein deutsches Hightechunternehmen, das Caspar seinen Kunden empfahl -, aber irgendetwas schien nicht ganz zu stimmen. Sie überprüfte noch einmal den entsprechenden Zahlungsbeleg und runzelte die Stirn. Rasch schaltete sie Piers’ Taschenrechner ein, gab die Summe in Euro ein und rechnete sie dann in Pfund Sterling um. »Ich werd verrückt«, flüsterte sie. Die an den Kunden gezahlte Summe war um gut zehn Prozent zu niedrig.
Sie fischte einen anderen Beleg aus dem losen Stapel und überprüfte auch hier die Zahlen – mit dem gleichen Ergebnis. Sorgfältig, die Lippen vor Konzentration fest zusammengepresst, raffte sie die losen Blätter zusammen und legte den Kundenordner in die Schublade zurück. Dann griff sie wahllos einen anderen heraus, mit ähnlichen Investitionen, und stellte dieselben Berechnungen an.
»Du verdammtes Schwein«, sagte sie, und diesmal gab sie sich keine Mühe, leise zu sein. Es war so genial einfach. Die meisten von Piers’ Kunden waren sehr wohlhabend und hatten ihr Geld in eine ganze Reihe von Aktien und Fonds investiert. Würde irgendeiner von ihnen sich die Mühe machen,
bei jeder einzelnen Überweisung den Wechselkurs zu überprüfen? Piers hatte satte zehn Prozent von den Gewinnen seiner Kunden eingestrichen, und sie hatte gerade den Beweis gefunden.
11
Anfangs schien die Dunkelheit undurchdringlich. Der Himmel hatte sich mit marmorierten Wolken überzogen, deren Ränder im Schein der verdeckten Mondsichel dunkelviolett leuchteten, und kaum ein Lichtstrahl drang durch das Geäst der Bäume, die sich über das Ufer neigten.
Doch als seine
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