Söhne der Luna 1 - Im Bann des Wolfes
ihre Hand in das Eiswasser einer Schale. Ihre Geistesgegenwart kehrte zurück. Vor der illustren Gesellschaft, die sich in den Raum schob, durfte es kein Aufsehen geben. Daher nahm sie einen Dekanter an sich und zog sich an die Wand zurück. Die Arme ausgebreitet, warf Saint-Germain sich in die Brust und hieß seine Gäste zum Höhepunkt dieser Nacht willkommen.
»Mesdames et Messieurs, hier bietet meine Wenigkeit Euch die Ewigkeit in Fleisch und Blut dar!«
In den achtzehn Sommern ihres Lebens hatte Florine einiges gesehen und noch mehr gehört, um auf jede Absonderlichkeit gefasst zu sein. Ihre Kenntnis der Welt hatte in ihr jedwede einst vorhandene Leichtgläubigkeit getilgt. Desto mehr staunte sie über den Unsinn, den Saint-Germain über die kleine Gesellschaft ausgoss. In seinem schnellen Stakkato sprach er vom Quell ewiger Jugend und Unsterblichkeit und wollte zu guter Letzt einen Beweis antreten, der seine Zuhörer überzeugen sollte. Seine verschachtelte Wortwahl war ermüdend. Sie sank gegen die Wand und beobachtete mit wachsendem Unglauben das Geschehen.
Der Gewölbekeller war zu einer Bühne geworden, deren Mittelpunkt in dem nahezu nackten Mann bestand. Er lenkte alle Aufmerksamkeit auf sich. Zweifelsohne waren die Damen zu stark damit beschäftigt, seinen Anblick in sich aufzusaugen, um Saint-Germains Ausführungen folgen zu können. Über den Spitzenrand ihrer Fächer gafften sie ohne jede Scheu. Was für ein Bubenstück! Garantiert war der Gefesselte eingeweiht. Sein Blick haftete auf Saint-Germain, der sich in einem endlos währenden Vortrag erging.
Beim Eintritt der Gesellschaft war der Gefesselte verstummt. Die dichten Stoppeln auf Kinn und Wangen machten es leicht, auf seine Herkunft zu schließen. Saint-Germain hatte einen Herumtreiber, einen Vagabunden aufgegabelt. Klingende Münze würde ihn für seinen Part in dieser Farce entlohnen. Einer der Herren schien zu der gleichen Ansicht gelangt zu sein, denn seine Stimme triefte vor Spott.
»Sprecht Ihr etwa von einer ähnlichen Unsterblichkeit, die Ihr selbst erlangt haben wollt, Saint-Germain?«
Die Anmerkung entlockte Madame de Pompadour ein Stirnrunzeln. Es war bekannt, dass Saint-Germain in ihr und dem König Gönner gefunden hatte. Zweifel an seiner Herkunft, seiner weit zurückreichenden Vergangenheit, gar an seinen Worten wurden bei Hofe nicht geduldet. Höflich verneigte sich Saint-Germain vor dem Skeptiker.
»Vergebt mir, ich ließ mich hinreißen. Mein Vortrag sollte Euch nicht erschöpfen, sondern auf das Folgende vorbereiten. Die Vergänglichkeit unseres Seins ist ein Trugschluss. Das ewige Leben muss kein unerreichbares Sehnen bleiben. Doch kommen wir zum eigentlichen Anlass dieses wunderbaren Abends.« Er griff in seine Rocktasche und zog etwas hervor. »Dies hier ist ein Skalpell.«
Die scharfe Klinge entsprach nicht unbedingt Florines Vorstellungen von einem wunderbaren Abend. Ganz im Gegenteil verhieß sie nichts Gutes. Der Gefesselte tat einen tiefen Atemzug.
»Wollt Ihr den Mann etwa verletzen?«, keuchte Morphise.
»Von welcher Art und Dauer seine Verletzung sein wird, werdet Ihr mit eigenen Augen sehen.«
Als Saint-Germain neben den Gefesselten trat, hob das Knurren wieder an. Leiser diesmal. Die Damen drängten sich zusammen und rückten in die Deckung ihrer beiden Begleiter. Durch den Gefesselten ging ein Ruck. Muskeln wölbten sich in langen Strängen unter seiner Haut hervor. Die Ketten spannten sich und vibrierten. Während die Damen erschreckt aufschrieen, quittierte Saint-Germain den nutzlosen Vorstoß mit einem Lächeln und einem langen Schnitt über die Rippen des Mannes. Das Skalpell teilte sein Fleisch und Blut quoll hervor. Obwohl ihm aufgegangen sein musste, worauf er sich eingelassen hatte, gab der Zigeuner in Ketten keinen Laut von sich. Er stemmte sich gegen die eisernen Fesseln, während Saint-Germain sein Blut in einem kleinen Glas auffing und es in die Höhe hob.
»Das ist grausam!«, begehrte der Skeptiker auf. »Es sind Damen zugegen.«
»So tretet denn näher. Die Wunde schließt sich bereits wieder.«
Niemand trat näher. Selbst aus der Distanz war es zu sehen. Der Blutstrom versiegte, das Fleisch schloss sich und der Verwundete funkelte seinen Widersacher an. Mit seinen Augen stimmte etwas nicht. Abgesehen von der Mordlust darin, entdeckte sie noch etwas anderes. Flecken, hell wie Quecksilber, die sich in der Iris ausbreiteten.
»Ein Heilungsprozess, der zu schnell vonstatten geht, um
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