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Söhne und Planeten

Söhne und Planeten

Titel: Söhne und Planeten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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letztes Eigentor nicht einmal signiert. Es gehörte natürlich einiger Mut dazu, die Geschichte von Kafka zu Ende erzählen zu wollen, aber es war klar, dass ein solches Unterfangen zu nichts führen konnte. Dazu der Umstand, dass sie niemand veröffentlichen würde, wie schon das Manuskript zu seinem »Buch der Fragen«, das Thomas als Erster lesen durfte (nicht Nina, nicht sein Bruder Jürgen); dazu war das Vergehen an der Kunst des berühmtesten Schriftstellers des vergangenen Jahrhunderts zu groß.
    Thomas drehte das Blatt noch einmal um. Nein, es ging tatsächlich nirgends weiter, das schien der Schluss zu sein. Die Geschichte blieb also weiterhin zwischen Himmel und Erde hängen. Ein Eigentor, ein Sakrileg, eine hilflose, finale Geste.
    Der König hat geweint
.
    Eines Tages werden wir vielleicht alle darüber lachen, Tränen lachen und uns der alten Tage schämen, dachte Thomas und schüttelte die Streichholzschachtel, um abzuschätzen, wie viele Hölzer noch darin waren.
    Das Geräusch brachte ihm zu Bewusstsein, wie erschöpft er war. Seine Schultern fühlten sich schwer an, sein Blick blieb an unwichtigen Dingen hängen und sein Herz war ein schwarzer Tunneleingang.
    Er bemerkte, dass er die Trauerfeier versäumt hatte. Er beriet sich einen Augenblick mit seiner Armbanduhr, aber es stimmte, es war nicht zu ändern. Erleichtert gab er sich eine tadelnde Ohrfeige.
    Ein letztes Mal wendete er den Zettel, um zu sehen, ob nicht vielleicht irgendwo noch ein Lebenszeichen zu finden war. Nein, nur ein lang gezogener Kreis um ein Wort in dem Wahlkampftext. Für einen kurzen Augenblick hatte er das Oval für das Fragment einer Zeichnung, vielleicht den Beginn eines Porträts, gehalten, das sich undeutlich abhob und ihn ansah.

Die neuere
Katharer-Forschung

1
Der Besuch
    Jede Porträtskizze beginnt mit demselben Ei.
    Auf das Ei kommen zwei räumliche Orientierungslinien, auf der Höhe von Augen und Mund. Anschließend teilt eine gestrichelte Linie das Ei vertikal in der Mitte. Nun beginnt die Feinarbeit und die rechte Hand der Zeichnerin, die bisher locker über ihrem Werk geschwebt ist, lässt sich sanft auf der Tischplatte nieder.
    Bin ich das? –
Zu diesem Zeitpunkt ist die Frage noch unzulässig. Die Künstlerin würde vermutlich gar nicht darauf antworten.
    Sie kommunizierte mit mir nur durch kurze Blicke, die darüber wachten, dass der dünne Faden zwischen Wirklichkeit und Kunstwerk, gespannt wie eine Leine, nicht plötzlich abriss. Ihre Augen blitzten hin und her, von mir zum Papier, gleich wieder zu mir, länger aufs Papier, länger zu mir. Sie hatte zwar nicht gesagt, dass ich stillhalten sollte, aber ich tat es. Nur mein linker Fuß wippte, ein Perpetuum mobile, das in der ewig gleichen Bewegung gefangen war.
    Der Vormittag war hell und freundlich, ein höflicher Vorbote der ersten, vorsichtigen Sommertage, denen manchmal schon ein Hitzeeinbruch gelingt, der aber nicht von Dauer ist, sondern gleich wieder von Wind und kurzen Regenschauern unterbrochen wird. Und wie das Gedächtnis alter Menschen erinnerndie Schatten hoher Gebäude noch lange an die Kälte.
    In der Nacht hatte es geregnet und der Asphalt vor dem Fenster war eine nasse Schultafel.
    Erste zarte Hinweise auf meine Augen entstanden auf dem Zeichenpapier und irgendetwas an der Tatsache, dass sie ausgerechnet diesen Teil meines Gesichtes als Erstes anging, machte mich glücklich. Zuerst erschienen die Bögen der Augenbrauen, ihr Übergang zur Nasenwurzel und schließlich verdichteten sich ein paar stumpfe Bleistiftpunkte zur dezenten, winzigen Spiralgalaxie einer Iris. Auf die Verdichtung folgte ein schwarzer Punkt, das Atemloch einer Pupille.
    Manchmal schaute ich an der Künstlerin vorbei, auf die Zimmereinrichtung, auf das breite Grinsen eines Klaviers, das mich entfernt an das Skelett eines großen surrealistischen Pferdes erinnerte, auf die verschiedenen hellen Zeichnungen an den Wänden und, durch das Fenster, dessen Jalousien zur Hälfte heruntergezogen waren, auf die Straße. Die feuchten Zebrastreifen flimmerten blendend hell in der Sonne. Nasse Fahrzeuge glitten lautlos vorbei wie gepanzerte Käfer, dann ein in seinem Sommerkleid schwebendes Mädchen oder ein baumlanger Mensch ohne Kopf: die Poesie ebenerdiger Wohnungen.
    Die Künstlerin machte eine kurze Pause, spitzte den Bleistift nach.
    – Und? Was sagst du?
    – Sehr schön, lobte ich.
    Es war die Wahrheit. Obwohl sie meine Nase etwas begradigt hatte, was vielleicht einfach nur

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