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Söhne und siechende Seelen

Söhne und siechende Seelen

Titel: Söhne und siechende Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alper Canıgüz
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nie, was ein König im Gepäck hat.«
    Stellen Sie sich mich nun bitte benebelt, vorzugsweise in Schwarz-Weiß-Format, in einer bis zum Rand mit einer seltsamen Flüssigkeit gefüllten Spritze vor. Eine spezielle Ausrüstung benötigte ich nicht, denn ich hatte bereits früher in einer Ausbildung die Anwendung von Flüssigsauerstoff gelernt
(Aus der Episode: »Sind Gefühle nur nicht fundierte Gedanken?«)
, und ich würde in Duygu Hanıms Gehirn auf ausreichend Sauerstoffmoleküle treffen. Alles verlief mehr oder weniger in geordneten Bahnen. Ich überzeugte mich selbst an Ort und Stelle von der Richtigkeit der Leibniz’schen These, wonach wir ein gigantisches Gehirn bauen und betreten könnten, doch alles, was wir dabei sähen, wären ein paar mikrochemische Vorgänge, und niemals würden wir verstehen, was in diesem Gehirn gedacht und gefühlt wurde.
    An dieser Stelle werde ich die Herrschaften, die das Geschehen noch immer verfolgen, bitten, sich eine kleine Brücke vorzustellen. Rechts und links die beiden Hirnhemisphären, alles ist beherrscht von einem furchterregenden roten Licht. Die Beschreibung einer Art Zeichentrickhölle. Das Corpus callosum symbolisiert die hauchdünne, messerscharfe schmale Brücke ins Paradies, und was darunter liegt, ist ohne jeden Zweifel die Hölle. In völligem Einklang mit den Betrachtungsregeln komme ich von der von Ihnen aus gesehen linken Hemisphäre eines Ihnen mit dem Gesicht zugewandten Menschen und will – im Glauben, dass sich dort das Paradies befindet – hinüber zur rechten Hemisphäre. Eigentlich befindet sich das Paradies nicht in der rechten Hirnhemisphäre. Sowie man seinen Fuß dort hingesetzt hat, wird der gesamte Kosmos inklusive des Gehirns, in dem man sich gerade befindet, zum Paradies. Dabei möchte ich feststellen, dass man in dieser Szene des Hinübergehens von links nach rechts keinerlei politische Botschaft sehen darf. Man darf nicht vergessen, dass sogar Gott irgendwo anfangen muss. Ein zusätzlicher Faktor: Die zu überschreitende Brücke befindet sich interessanterweise im Gehirn der Liebsten, und auf dieser Brücke erwartet mich ein Vergangenheitsfresserkönig, der mich nicht nur von meinem Ziel abbringen, sondern gleichzeitig auch in die Hölle schicken will. An dieser Stelle erlebt die Kunst der Symbolik einen Ausbruch. Das Aussehen des Vergangenheitsfresserkönigs ist so furchterregend wie ein durchschnittlicher Käfer; zusätzlich dazu trägt er einen Umhang, eine Krone und anstatt eines Zepters einen Dreizack. Mitten auf seiner Stirn hat er außerdem eine alte Narbe. Der Dreizack in seiner Hand ist recht groß. Anfangs wird der König mich nicht beachten, weil er mich für eine gewöhnliche Bakterie hält, die sich verirrt hat, aber ich werde versuchen, ihm einige Dinge ins Bewusstsein zu bringen, indem ich meine Absicht, die ich mit meiner Anwesenheit nicht vermitteln konnte, mit Worten zum Ausdruck bringe: »Ich bin gekommen, um dich zu töten, König.«
    Die Augen des Königs verdüstern sich, aber ich begreife, dass das nicht aus Angst geschieht. Seine Stimme klingt sanft und beeindruckend: »Herzlich willkommen, mein Junge.«
    »Sag mir, König, hast du einen Namen? Ich wüsste gern den Namen meines Feindes.«
    »Man nennt mich Castratus, mein Junge, was in der Sprache der Vergangenheitsfresser finsterster Alptraum bedeutet. Doch sag mir: Warum sind wir denn Feinde?«
    »Du hättest meine Liebste in Ruhe lassen sollen!«
    Wie naiv ich war! Der Käfer hatte sich vor meinen Augen in einen Löwen verwandelt. In einen Löwen, dessen Augen tausend Jahre alt waren. »Liebe ist niemals einseitig.«
    »Willst du damit sagen, dass Duygu Hanım dich becirct hat?«
    »Das sind deine Worte, genau dir entsprechend«, sagte er ohne jegliche beleidigende Absicht.
    »Deine Persönlichkeit hat etwas von Orson Welles an sich«, brüllte ich.
    »Wie hast du es wagen können, mit so viel Leid zu mir zu kommen?«, fragte er. Gott weiß, wo seine Weisheit geblieben war. Ihn als eine Orson-Welles-Kopie anzusehen – woran mit großer Wahrscheinlichkeit etwas Wahres dran war – hatte vielleicht dazu geführt, dass Castratus litt. Dieses Leiden wiederum schuf eine unmittelbare Erinnerung, die seine Weisheit zerstörte. Womöglich war das der Punkt, den Öztürk übersehen hatte. Vielleicht wurde der Vergangenheitsfresser zu seinem eigenen Ziel, wenn seine größte Schmerzerinnerung ihn selbst betraf?
    Wie für diese Art von Literatur üblich, blitzte es in

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