Söhne und siechende Seelen
mir aufbaute, war niemand anderes als Duygu Fırtına. »Aber – wie ist das möglich?«, fragte ich.
»Komm her«, forderte Duygu Fırtına mit gebieterischer Stimme. Ich gehorchte ihr, hegte aber auch den Verdacht, dass ich es mit einem weiteren Spiel des Teufels Castratus zu tun haben könnte. Ich ging zu ihr und dachte, sie würde mich umarmen, doch sie wirkte recht unbeteiligt und kalt. »Ich weiß, was dir durch den Kopf geht. Ich werde dir alles erklären.«
»Ja, Duygu Hanım«, bat ich. »Erklären Sie mir bitte, wie Sie in Ihr eigenes Gehirn gekommen sind. Vor allem in diesem Outfit!«
»Beginnen wir erst einmal damit, deinen Fehler zu korrigieren: Ich bin nicht Duygu Hanım, sondern Duygu Hanıms ENA.«
Das sagte sie in einem ziemlich überzeugenden Ton. »Interessant. Ich habe aber nicht die leiseste Ahnung, was ENA bedeutet.«
»Egonukleinsäure«, erwiderte Duygu Hanıms ENA, ohne im Geringsten von ihrer Ernsthaftigkeit abzuweichen. »Eine intrazellulare Struktur also, die den Code des menschlichen Egos trägt.«
»Sehr interessant, bitte erzähl weiter«, meinte ich. Dabei dachte ich: Wäre doch wenigstens ihre ENA nicht einen halben Meter länger als ich! Ein Merkmal, das mich im wirklichen Leben sehr verletzte und Öztürk bei der Eroberung Duygu Hanıms mir gegenüber einen völlig unverdienten Vorteil verschaffte.
»Die Angriffsstrategie eines Vergangenheitsfressers ähnelt stark der eines Virus. Er dringt sofort in die Zelle ein, findet die ENA und verändert den darin enthaltenen Egocode in seinen eigenen. Danach greifen diese in Vergangenheitsfresser-ENA verwandelten ENAs blitzartig die anderen Zellen an; das Massaker nimmt geometrisch zu.«
»Und du?«, fragte ich mit zweifelnder Stimme. »Wie bist du diesem Massaker entgangen?«
»Ich bin die Letzte der ENAs«, antwortete sie und wandte ihren stolzerfüllten Blick zu dem Höllenfeuer, in das sie kurz zuvor ihren Feind geschickt hatte. »Nachdem Duygu Fırtına das Bewusstsein verloren und sich Castratus vollständig ausgeliefert hatte, wurde eine Vollversammlung aller ENAs abgehalten mit dem Ziel, Verteidigungs- und Gegenangriffsstrategien zu entwickeln. Leider verlief diese Zusammenkunft ergebnislos. Die Diskussionen arteten zunehmend in Streitereien aus, und so beschlossen die ENAs, sich um sich selbst zu kümmern. Am Ende fielen sie alle Castratus zum Opfer. Und ich entdeckte, wenn auch nicht so schnell wie du, dass der einzige Weg, um ihn zu vernichten, die Psychoanalyse war.«
»Ich will mich ja nicht selbst loben, aber mein Hirn funktioniert ziemlich gut«, konnte ich nicht umhin zu sagen.
»Das denke ich nicht«, sagte ENA, die Schlampe.
Ich lief knallrot an. »Was bedeutete denn dieser Satz mit dem Kissen und dem Lineal, der Castratus zugrunde richtete?«, fragte ich sogleich, um das Thema zu wechseln.
»Während ein Vergangenheitsfresser eine ENA umwandelt, muss er ihr zwangsweise auch eine Menge eigene Daten übermitteln. Bevor die ENA ihr Leben verliert, hat sie die Chance, diese Informationen an andere weiterzuleiten. Und im Lichte dieser wertvollen Daten der Märtyer-ENA habe ich meine Psychoanalyse durchgeführt«, erläuterte sexy ENA. »Castratus’ neurotische Zwangsvorstellungen sind darauf zurückzuführen, als er zum ersten Mal Zeuge der sexuellen Praktiken seiner Eltern wurde. Eines Nachts, als der kleine Castratus Hunger bekam, wollte er in die Palastküche, um einen Happen zu essen. Er verließ sein Zimmer, und als er am elterlichen Schlafgemach vorbeikam, hörte er merkwürdige Geräusche. Er beobachtete seine Eltern heimlich und gelangte zu der Überzeugung, dass sein Vater seine Mutter mit einem Kissen zu ersticken trachtete. Vor allem, weil er gleichzeitig mit einem Lineal brutal auf die arme Frau einprügelte. Später versuchte Castratus immer wieder, dieses Lineal verschwinden zu lassen, doch er konnte es einfach nicht finden, und dafür gab es nur eine einzige Erklärung: Sein Vater versteckte das Lineal im Kissen und so weiter und so weiter. Solch unsinnige Geschichten eben …«
»Das Wichtigste ist doch, dass er abgekratzt ist«, sagte ich, ohne das Thema Analyse weiter zu vertiefen. »Und was hast du jetzt vor?«
»Ich muss so schnell wie möglich mit einer Kampagne ›Eine ENA für jede Zelle‹ beginnen.«
»Für jede Zelle? Das scheint eine schwierige Aufgabe zu sein.«
»So schlimm ist es nicht«, sagte die Amazone ENA. »Wenn man bedenkt, dass unsere Zahl geometrisch ansteigt, dann wird
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