Söhne und siechende Seelen
war.«
»Nein! Nein!«, schrie ich ablehnend und schlug mich selbst. »Ich hätte das nicht tun dürfen, ich hätte diese Bedeutungen nicht opfern dürfen!«
»Du hast sie nicht geopfert«, verkündete Öztürk begeistert die gute Nachricht wie ein netter alter Opa, der in den Anfangsjahren des Islam gelebt hatte. »Worte gehen über ihren eigentlichen Wortgehalt hinaus.«
»Sagst du die Wahrheit, alter Mann?« Noch einmal war ich in der Wüste – diesmal handelte es sich allerdings um ein Filmset –, und ich schüttelte den Alten, der mir gesagt hatte, dass meine Liebste nicht tot war, auf dass er es immer und immer wieder sagte. Gleichsam. »Ich bin also eigentlich unschuldig, stimmt’s? Stimmt’s? Lass mich dir danken, allmächtiger Gott!«
»Du bist nicht nur unschuldig, sondern ein bisschen naiv!« Dieser schlechte Witz, diese falsche Vertrautheit … Öztürk arbeitete darauf hin, mich zu mir selbst oder mein Selbst zu mir zu bringen. Er musste einen Grund dafür haben. Ich hatte Angst und zog mich in mein Selbst zurück. »Viel Zeit haben wir nicht«, äußerte Öztürk sofort sein Anliegen. »Die Vergangenheitsfresser können jeden Moment an unserer Tür klopfen.«
»Ja, natürlich«, sagte ich. »Zu diesem Thema wollte ich ohnehin kommen.«
»Das haben Sie sich nicht anmerken lassen.«
»Auf dem Gebiet bin ich speziell ausgebildet worden«, begann ich, und Öztürk hob reflexartig seine Hand, aus der Besorgnis heraus, ich könnte wieder abschweifen. Ich räusperte mich. »Sag, Öztürk, mein Waffenfreund, was sind das für Typen, diese Vergangenheitsfresser?«
»Sie kommen aus der Vergangenheit«, begann er zu erläutern. »Und fressen.«
»Ich habe sie mir ganz anders vorgestellt«, gestand ich. »Was weiß ich? Außerirdische Gedächtniskonsumenten oder so. Am Ende hat der Mann keine einzige Erinnerung übrig und lebt sein Leben, als würde er jeden Augenblick neu geboren und so weiter …«
»Aber so ist es nicht«, brauste Öztürk wütend auf. »Wenn du einmal die fixe Idee ablegst, dass alles deiner Fantasie entspringt, kann ich dir noch mehr erklären.«
»Es freut mich, wenn ich überrascht werde. Bitte fahren Sie fort.«
»Sie starten an einem Punkt des Gedächtnisses und bestrafen dich. Auf schrecklichste Weise. Meistens, indem sie morden.«
»Von welchem Punkt des Gedächtnisses aus?«
»Von irgendeiner Erinnerung aus. In einem völlig unerwarteten Moment greifen sie an, töten und verschwinden wieder.«
Wäre es unangebracht zu fragen, wohin? In diesem Moment erinnerte ich mich an jene goldene Regel (wenn du zweifelst, lass es!), die Autofahrer unseres Landes nie zu schätzen wissen, und schwieg. Diese Unterlassung durchlief alle möglichen Labyrinthe und Komplexe meiner komplizierten Hirnwindungen und verschaffte sich schließlich in einem Spruch Gehör: »Die Geschichte besteht nur aus Zweifeln.«
»Eine äußerst treffliche Feststellung«, sagte Öztürk. »Das Opfer erlebt in seiner Geschichte wiederholt dieselbe Begebenheit und wird so zum Subjekt dieses Satzes!«
»Würden Sie mir, wenn ich Sie darum bitte, die Realität an einem Beispiel erklären?«
»Niemand hat die Realität anhand eines Beispiels erklären können. Nicht einmal David Hume. Aber diese Geschichte kann ich schon an einem realen Beispiel erklären.« Als ich verstand, dass er ohne eine Zustimmung meinerseits nicht weitererzählen würde, machte ich – unter weitestgehender Vertuschung meiner Schwächen – mit bestimmten Mimiken und Gesten deutlich, dass ich seinen Einwand vernünftig und ausreichend fand. Dankenswerterweise fuhr er mit seiner Rede fort: »Unsere enge Freundin Duygu Fırtına, die in manch einem Abenteuer mit uns den Säbel schwenkte und mit ihrem Geiz, den sie trotz ihres Reichtums an den Tag legte, unter all den Helden einen eigenen Platz eingenommen hatte, ging einem Vergangenheitsfresser ins Netz.«
Angewidert betrachtete ich Öztürk, der nicht Duygu Fırtınas Schönheit und scharfen Verstand, sondern ihren Geiz hervorhob. Nicht, weil er nicht für einen Funken seinen Mann stand, sondern weil er es vorzog, diese verwinkelten Wege einzuschlagen und so die Tatsache, dass wir beide in dieselbe Frau verliebt waren, sowie die daraus resultierenden herzbrecherischen Schlussfolgerungen zu ignorieren. Anstatt ihm meine Gedanken mitzuteilen, zog ich es vor, der Situation angemessen mit Entsetzen »Was!« zu brüllen.
»So ist es auch richtig«, formulierte Oztürk. Dabei hätte er
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