Söhne und siechende Seelen
…« Ich glaubte, dass Semikolons im Vergleich zu Punkten meine Überlebenschancen erhöhten.
»Natürlich nicht«, machte Castratus einen Schritt zurück. »Was hätte ich denn tun können? Ich war nur der Prinz und er der mächtige König.«
»Darum geht es nicht, Castratus«, sagte ich, als würde ich mich gar nicht wichtig nehmen. »Dass du das Ganze als einfaches Hierarchieproblem betrachtest, liegt daran, dass du dich selbst betrügen willst … So kannst du dich davor schützen, ihm als Mann gegenüberzutreten und mit ihm verglichen zu werden.«
Castratus knickte in der Mitte ein, als hätte er einen kräftigen Hieb in die Magengrube kassiert. »Du bist niederträchtig!«
Einen Augenblick lang wertete ich die flackernden Lichter vor meinen Augen fälschlicherweise als ein Anzeichen des Sieges. Ich zog den Dreizack aus dem Boden. Ganz langsam erhob ich mich und ging in Richtung Corpus callosum. In der Mitte der Brücke blieb ich stehen und leckte mir über die Lippen. Ein letzter Schlag würde genügen, um ihn genüsslich fertigzumachen. Leider kriegte ich meinen Mund einfach nicht auf. Sätze, die mir in den Sinn kamen, verloren ihre Bedeutung und verwandelten sich in seltsame Graphiken. Als würde ich nicht nachdenken, sondern mir ein Feuerwerk ansehen. Der Anblick des sich krümmenden Castratus wirkte wie ein leidvolles, aber in gleichem Maße auch verzauberndes Gemälde. Alles war dort, wo es hingehörte. Es schien nur ein wenig zu dunkelblau. »Alles verwandelt sich in ein Bild«, sagte ich.
»Und wir auch …«, murmelte Castratus.
Genau an diesem Punkt ging meine Loslösung vonstatten. Von ganzem Herzen wollte ich mich in ein Bild verwandeln oder arbeitete irgendwie darauf hin. Meine Brust fiel ein und ich bekam keine Luft mehr. In einer Panik, die mir beinahe den Verstand raubte, begann ich zu zappeln. Einerseits versuchte ich mir einzureden, dass dieses Gefühl nicht real war, andererseits, mich an entspannende Atemtechniken zu erinnern. Doch umsonst. Auf nichts in meinem Gedächtnis konnte ich zurückgreifen. Eigentlich erinnerte ich mich an alles, doch meine Erinnerung konnte daraus kein Gesamtbild formen. Ich hatte mein Ich-Gefühl verloren. »Ich flehe dich an«, wimmerte ich. »Ich flehe dich an, mir etwas über mich zu erzählen.«
»Dein Tod wird in meinen Händen liegen.« Castratus war nicht nur wieder zu sich gekommen, nein, er hatte sich sogar noch imposanter als zuvor vor mir aufgebaut. Wieder hielt er seinen Dreizack in der Hand. Mit zwei langen Schritten war er bei mir. Ich schloss meine Augen und wartete auf den Tod. Ich meinte, den begabtesten Maler der Welt in meiner Seele zu beherbergen, als Castratus mir mit der Rückseite des Dreizacks ins Gesicht schlug. Ich verlor den Boden unter den Füßen und stürzte ins Leere. Wenn ich nicht mit Mühe und Not Duygu Hanıms Corpus callosum zu fassen bekäme, würde ich in die Hölle fahren. Mit fest geschlossenen Augen harrte ich eine Weile aus. Doch der tödliche Schlag zögerte sich immer weiter hinaus. Also öffnete ich die Augen minimal und hob den Kopf. Der Schatten, der auf mich fiel, gehörte nicht mehr dem furchteinflößenden Gladiator. Die Person, die sich mit ihrem üblichen abwesenden Gesichtausdruck über mich beugte, war meine Mutter. Mein Herz wurde frostig. Als wollte sie mir etwas zuflüstern, näherte meine Mutter sich meinem Ohr. So, wie sie mir einmal das Leben geschenkt hatte, würde sie mir jetzt, das wusste ich, das Geheimnis des Lebens anvertrauen und mich dann zur Hölle schicken. Das war es meines Erachtens wert. Ihr warmer Atem streifte mein Ohr.
Leider sollte ich dieses Geheimnis niemals erfahren, denn bevor meine Mutter etwas sagen konnte, vernahm ich das Gebrüll einer so selbstsicheren wie höhnischen Frau: »Wie geht’s, wie steht’s, Castratus? Schläfst du immer noch ohne Kissen, weil du befürchtest, es könnte ein Lineal darin versteckt sein?«
In dem Moment verwandelte sich Castratus wieder in einen Riesenkäfer; er griff sich unter furchterregenden, widerlichen Schmerzensschreien mit beiden Händen ans Herz und stürzte in die Höllengrube. Ich war gerettet. Zumindest für eine Weile. Mit athletischen Bewegungen zog ich mich auf das Corpus callosum und blickte zu den Hirnwindungen, um zu erkennen, wer mein Retter gewesen war.
Wer sich da in einer höher gelegenen Region des linken Lappens in einem hautengen sexy roten Body, der Arme und Beine frei ließ, und mit einer Peitsche in der Hand vor
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