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Söhne und siechende Seelen

Söhne und siechende Seelen

Titel: Söhne und siechende Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alper Canıgüz
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meinen Augen auf, und in dem Moment fiel mir die Formel für die Rettung ein: Sollte ich hier heil herauskommen wollen, musste ich das Monster einer Psychoanalyse unterziehen!
    Mein Plan war simpel: Zuerst würde ich mit dem Vergangenheitsfresser eine Übung zur freien Assoziation machen. So könnte ich aus seinen ständig wiederholten Themen erfahren, in welcher psychosexuellen Phase er sich befand, mit den angemessenen Techniken das Leid lokalisieren und extrahieren, das Monster damit konfrontieren, ihm zeigen, wie unwichtig diese Erinnerungen aus seiner Vergangenheit eigentlich waren, und ihn zu seiner Genesung einer Katharsis unterziehen. Den Preis für seine seelische Gesundheit würde er mit der Vernichtung seines Körpers bezahlen. So wie wir alle.
    »Schaukel«, fing ich traurig mit der freien Assoziationsübung an.
    »Meine Mutter«, begann er. Würde er auf die Therapie ansprechen? »Sie hat mich nie geliebt.«
    »Und du? Hast du sie geliebt?«
    »Ich habe meine Mutter sehr geliebt«, antwortete er ruhig. »Aber gleichzeitig habe ich mich wegen ihr geschämt. Ich wollte nicht mit ihr unter die Leute gehen.« Ich nickte ihm zustimmend zu, um ihn zum Weitermachen zu ermuntern. Sonst hätte er mich gefressen. Zum Glück wollte auch er reden. »Warum ich das wohl tat? Stets dachte ich, dass sie meine Liebe nicht verdiente, dabei weiß ich heute, dass ich ihre Liebe nicht verdiente.«
    »Hast du etwas getrunken?«, fühlte ich mich genötigt zu fragen.
    »Nein«, erwiderte er eisig.
    Ich machte mir Sorgen, sein Verstand könnte sich mir zuwenden. »Darf ich dich zu einem Whisky einladen?«
    »Danke, aber im Dienst trinke ich nur das Blut meines Opfers«, sagte er. Man durfte diese Brut von einem Vergangenheitsfresser nicht unterschätzen. Er hatte mich durcheinandergebracht, und ich musste mich schwer beherrschen, ihm nicht sogleich von meinem größten Leid zu erzählen.
    »Tisch«, ließ Castratus seinen Hieb niederfahren.
    »Flasche«, wimmerte ich. »Schnapsflaschen.« Was war das denn! König Castratus hatte mich glattweg in die freie Assoziation genötigt. So ein Mistkerl! Er machte also mit mir ebenfalls eine Psychoanalyse. In der Sekunde begriff ich: Das war seine Waffe. Er unterzog seine Opfer einer Psychoanalyse, brachte so ihre schlimmsten Traumata ans Licht und begann sein Festmahl mit dem leckersten Stück. Es war ein Duell. Wer die Psychoanalyse schneller zu Ende brachte, hatte gewonnen. »Erzähl mir von deinem Vater«, sagte ich mit letzter Anstrengung.
    »Mein Vater …« Er versuchte, nicht zu sprechen, doch er hielt es nicht aus. »Mein Vater verhaut deinen Vater.«
    Der fiese Castratus würde sein Unbewusstes nicht leicht offenbaren. »Hat dein Vater dich oft geschlagen?«, bedrängte ich ihn.
    »Mein Vater hat jeden geschlagen. Er war ein König.«
    Mir entging nicht der Stolz, der bei diesen Worten aufflammte. Ich wusste, dass wir die Risse in unserem Geist mit Gefühlen auffüllten. »Und deine Mutter? Hat er deine Mutter auch geschlagen?«
    Da erwiderte er doch glatt: »Ab und zu hat er die Schlampe ein wenig gestreichelt.«
    »Und du, kleiner Prinz?«, fragte ich umbarmherzig. »Was tatest du, während der König deine Mutter verprügelte?«
    »Ich kann es fühlen …«, ging Castratus mit unerwarteter Flinkheit seines Körpers zum Gegenangriff über. »Du hast eine große Wut in dir.«
    »Ich hasse die Menschen«, fing ich den Angriff mit der Brust ab. Zumindest könnte ich so etwas Zeit gewinnen.
    Der König der Löwen gab ein stilisiertes Lachen von sich. »Glaubst du, dass ich dir diesen Unsinn abnehme? Die Menschen sind dir völlig egal. Sogar die Propheten …«
    »Nein, nein, du irrst dich. Vor allem die Propheten …«, sagte ich mit letzter Kraft. Ich spürte, dass ich kurz davor war, zusammenzubrechen.
    »Nein, Jungchen«, trat der Gladiator und König der Vergangenheitsfresser Castratus an mich heran. Seinen Dreizack hielt er in der Hand. Ich sah, wie er ihn langsam hochhob. »Du hasst Gott. Weil er dich nicht zum Propheten gemacht hat.«
    »Ich glaube nicht an Gott«, sagte ich und rollte mich ein wie im Mutterleib.
    »Das stimmt nicht«, hörte ich ihn sagen. Ich war nicht mehr imstande, irgendetwas zu sehen. »Gott glaubt nicht an dich.«
    »Es ist nicht deine Schuld«, brüllte ich. Diesem letzten Schachzug hatte ich es zu verdanken, dass der Dreizack meinen Hals verfehlte und in den Boden eindrang, aber ich war gefangen zwischen zwei Zacken. »Zumindest nicht vollkommen;

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