Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
jedenfalls sehr genau beobachten müssen, wie Wasser zu Eis gefror und wie das Eis dann schmolz.
Wieder versuchte Sofie, selbst zu denken und nicht das anzuwenden, was sie von anderen gelernt hatte.
Parmenides hatte sich geweigert, alle Formen der Veränderung zu akzeptieren. Und je mehr sie sich das überlegte, umso überzeugter war sie, dass er in gewisser Hinsicht Recht gehabt hatte. Seine Vernunft konnte nicht akzeptieren, dass »etwas« plötzlich zu »etwas ganz anderem« wurde. Es war ganz schön mutig von ihm gewesen, das zu sagen, denn dabei hatte er ja gleichzeitig alle Veränderungen in der Natur leugnen müssen, die jeder Mensch beobachten konnte. Sicher hatten viele ihn ausgelacht.
Auch Empedokles hatte seine Vernunft ganz schön gut im Griff gehabt, als er erklärt hatte, dass die Welt notwendigerweise aus mehr als nur einem Urstoff bestehen musste. Auf diese Weise wurden alle Wechsel in der Natur möglich, ohne dass sich wirklich etwas änderte.
Das hatte der alte griechische Philosoph durch einfache Vernunftanwendung herausgefunden. Er hatte natürlich die Natur beobachtet, aber er hatte keine Möglichkeit gehabt, chemische Analysen anzustellen, so wie die heutige Wissenschaft.
Sofie wusste nicht, ob sie besonders überzeugt davon war, dass alles aus Erde, Luft, Feuer und Wasser bestand. Aber was spielte das für eine Rolle? Im Prinzip musste Empedokles Recht haben. Unsere einzige Möglichkeit, alle Veränderungen zu akzeptieren, die unsere Augen sehen, ohne gleichzeitig den Verstand zu verlieren, ist die Vorstellung von mehr als nur einem Urstoff.
Sofie fand die Philosophie besonders spannend, weil sie allen Überlegungen mit ihrem eigenen Verstand folgen konnte – ohne sich an alles erinnern zu müssen, was sie in der Schule gelernt hatte. Sie stellte fest, dass man Philosophie im Grunde nicht lernen kann, aber vielleicht, dachte sie, kann man lernen, philosophisch zu denken .
Demokrit
... das genialste Spielzeug der Welt ...
Sofie schloss die Kuchendose mit den vielen mit Maschine beschriebenen Briefbögen des unbekannten Philosophielehrers. Sie schlich sich aus der Höhle, blieb draußen eine Weile stehen und betrachtete den Garten. Plötzlich fiel ihr ein, was am Vortag passiert war. Die Mutter hatte sie auch am Frühstückstisch mit »diesen Liebesbriefen« aufgezogen. Jetzt rannte Sofie zum Briefkasten, damit sich das ja nicht wiederholte. Zwei Tage hintereinander einen Liebesbrief zu bekommen, ist genau doppelt so peinlich wie ein einziger.
Da lag wieder ein kleiner weißer Briefumschlag! Sofie sah jetzt langsam ein System in der Korrespondenz: Jeden Nachmittag hatte sie einen großen gelben Briefumschlag im Briefkasten gefunden. Und während sie den las, schlich sich der Philosoph dann noch einmal mit einem kleinen weißen Brief dorthin.
Das bedeutete, dass Sofie ihn mit Leichtigkeit entlarven könnte. Oder war es eine Sie? Wenn sie sich einfach an ihr Zimmerfenster stellte, hatte sie den Briefkasten gut im Blick. Und dann würde sie sicher den geheimnisvollen Philosophen entdecken. Denn weiße Briefumschläge konnten unmöglich von selber entstehen.
Sofie beschloss, am nächsten Tag gut aufzupassen. Dann war Freitag, und sie hatte das ganze Wochenende vor sich. Jetzt ging sie auf ihr Zimmer und öffnete dort den Briefumschlag. Heute stand nur eine Frage auf dem Zettel, aber zum Ausgleich war diese Frage noch verrückter als die drei im »Liebesbrief«:
Warum sind Legosteine das genialste Spielzeug der Welt?
Sofie wusste erst einmal gar nicht so recht, ob auch sie Legosteine für das genialste Spielzeug auf der Welt hielt; sie spielte jedenfalls schon seit vielen Jahren nicht mehr damit. Außerdem konnte sie nicht begreifen, was Legosteine mit Philosophie zu tun haben sollten.
Aber sie war eine gehorsame Schülerin. Sie wühlte im obersten Fach in ihrem Schrank herum und fand schließlich auch eine Plastiktüte mit Legosteinen in allen möglichen Größen und Formen.
Zum ersten Mal seit langem fing sie an, aus den kleinen Plastikklötzchen etwas zu bauen. Und als sie das tat, machte sie sich auch bald ihre Gedanken über die Legosteine.
Mit Legosteinen zu bauen ist leicht, dachte sie. Obwohl sie von unterschiedlicher Größe und Form sind, können alle Legosteine mit anderen zusammengesetzt werden. Außerdem sind sie einfach nicht kaputtzukriegen. Sofie konnte sich nicht erinnern, je einen zerbrochenen Legostein gesehen zu haben. Alle sahen noch genauso neu und frisch aus
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