Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
können. Aber in der Natur gibt es keine Zufälle. Alles geht auf winzige Veränderungen zurück, die über zahllose Generationen hinweg wirken.«
»Eigentlich ist das ein ziemlich phantastischer Gedanke.«
»Ja, nicht wahr? Also können wir vorläufig Darwins Entwicklungslehre so zusammenfassen ...«
»Komm schon!«
»... dass wir sagen: Ständige Variationen unter den Individuen ein und derselben Art und hohe Geburtenraten bilden den Rohstoff oder das Material für die Entwicklung des Lebens auf der Erde. Die natürliche Auslese im Kampf ums Dasein ist der Mechanismus oder die Triebkraft hinter dieser Entwicklung. Die natürliche Auslese sorgt dafür, dass immer die Stärksten oder Bestangepassten überleben.«
»Ich finde, das klingt genauso logisch wie eine Rechenaufgabe. Wie wurde das Buch über die Entstehung der Arten aufgenommen?«
»Es gab ein wütendes Geschrei. Die Kirche protestierte aufs schärfste und die Wissenschaftsszene in England spaltete sich. Eigentlich war das kein Wunder, denn Darwin hatte immerhin Gott den Schöpfungsakt streitig gemacht. Einige wenige Besonnene wiesen allerdings auch darauf hin, dass es doch wohl eine viel größere Leistung sei, etwas mit einer eingebauten Entwicklungsmöglichkeit zu erschaffen, als etwas, was ein für allemal in allen Einzelheiten festgelegt sei.«
Plötzlich sprang Sofie aus ihrem Sessel auf.
»Schau, da!«, rief sie.
Sie zeigte aus dem Fenster. Unten am See gingen ein Mann und eine Frau Hand in Hand spazieren. Sie waren splitternackt.
»Das sind Adam und Eva«, sagte Alberto. »Sie mussten sich gerade damit abfinden, ihr Schicksal mit Rotkäppchen und Alice im Wunderland zu teilen, deshalb tauchen sie hier auf.«
Sofie trat ans Fenster und sah ihnen nach, während sie hinter den Bäumen verschwanden.
»Darwin meinte doch, dass sich auch die Menschen aus den Tieren entwickelt haben?«
»1871 veröffentlichte er das Buch ›The Descent of Man‹ – ›Die Abstammung des Menschen‹. Darin weist er auf die großen Ähnlichkeiten zwischen Menschen und Tieren hin und erklärt, dass sich Menschen und Menschenaffen irgendwann von gemeinsamen Stammeltern wegentwickelt haben müssen. Inzwischen waren auch die ersten fossilen Schädel eines ausgestorbenen Menschentyps gefunden worden, zuerst in einem Steinbruch im Felsen von Gibraltar und einige Jahre darauf im Neandertal im Rheinland. Witzigerweise kam es 1871 zu wesentlich weniger Protesten als 1859 beim Erscheinen der ›Entstehung der Arten‹. Aber schon das erste Buch hatte ja angedeutet, dass der Mensch vom Affen herstammt. Und wie gesagt: Als Darwin 1882 starb, wurde er als Pionier der Wissenschaft feierlich bestattet.«
»Also ist er zum Schluss doch zu Ruhm und Ehren gelangt?«
»Ja, zum Schluss. Aber zuerst wurde er als der gefährlichste Mann in England bezeichnet.«
»Du meine Güte!«
»›Wir wollen hoffen, dass es nicht wahr ist‹, soll eine vornehme Dame gesagt haben, ›wenn aber doch, dann wollen wir hoffen, dass es nicht allgemein bekannt wird.‹ Ein bekannter Wissenschaftler sagte etwas Ähnliches: ›Eine demütigende Entdeckung und je weniger davon die Rede ist, desto besser.‹«
»Damit hätten sie ja fast den Beweis dafür erbracht, dass der Mensch vom Vogel Strauß abstammt!«
»Ja, das kannst du wohl sagen. Aber hinterher ist man eben immer klüger. Ganz plötzlich fühlten viele sich gezwungen, ihre Vorstellungen über den Schöpfungsbericht der Bibel zu revidieren. Der junge Autor John Ruskin drückte das so aus: ›Wenn die Geologen mich nur in Ruhe lassen würden! Am Ende jeden Bibelverses höre ich ihre Hammerschläge.‹«
»Und die Hammerschläge waren die Zweifel an Gottes Wort?«
»So hat er das wohl gemeint. Denn nicht nur das wortwörtliche Verständnis des biblischen Schöpfungsberichtes war damit erledigt. Darwins Theorie besagte auch, dass im Grunde völlig zufällige Variationen am Ende den Menschen hervorgebracht hätten. Und mehr noch, Darwin hatte den Menschen zum Ergebnis eines schnöden ›Kampfes ums Dasein‹ gemacht.«
»Hat Darwin etwas darüber gesagt, wie solche zufälligen Variationen entstehen?«
»Jetzt berührst du den schwächsten Punkt in seiner Theorie. Darwin hatte nur sehr vage Vorstellungen über die Vererbung. Einiges verschwindet ja bei der Kreuzung. Ein Elternpaar bekommt nie zwei gleiche Kinder. Bereits dabei kommt es zu einer gewissen Variation. Andererseits kann auf diese Weise kaum etwas wirklich Neues entstehen. Es
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