Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
bekämpfen. Anfangs kann das durchaus ein gutes Ergebnis bringen. Aber wenn man ein Feld oder einen Obstgarten mit immer mehr Insektenvertilgungsmitteln besprüht, verursacht man in Wirklichkeit für die Schädlinge, die man bekämpfen will, eine kleine Ökokatastrophe. Und wegen der dauernden Mutationen wird sich schließlich eine Gruppe von Schädlingen herausbilden, die widerstandsfähiger – oder resistenter – gegenüber dem verwendeten Gift ist. Diese ›Gewinner‹ haben eine bessere Überlebenschance und deshalb wird es immer schwieriger, sie zu bekämpfen. Gerade weil die Menschen so energisch versucht haben, sie auszurotten, überleben sie. Schließlich bleiben uns die widerstandsfähigsten Varianten.«
»Das ist unheimlich.«
»Es ist auf jeden Fall ein wichtiger Gedanke. Aber auch in unserem eigenen Körper versuchen wir, schädliche Schmarotzer zu bekämpfen. Ich denke dabei an Bakterien.«
»Wir nehmen Penizillin oder andere Antibiotika.«
»Und eine Penizillinkur ist für diese kleinen Teufel ebenfalls eine Ökokatastrophe. Aber je mehr Penizillin wir einwerfen, desto resistenter machen wir auch gewisse Bakterien. Auf diese Weise haben wir schon eine Gruppe von Bakterien herangezüchtet, die sehr viel schwerer zu bekämpfen ist als früher. Wir müssen immer stärkere Antibiotika verwenden, aber am Ende ...«
»Am Ende kriechen uns die Bakterien aus dem Mund? Vielleicht müssen wir dann auf sie schießen?«
»Das wäre vielleicht ein bisschen zu drastisch. Aber natürlich hat die moderne Medizin da ein ernsthaftes Dilemma geschaffen. Und gleich noch eins dazu: Nicht nur sind einzelne Bakterien etwas hitziger als früher; früher wurden viele Kinder auch nicht erwachsen, eben weil sie den verschiedenen Krankheiten erlagen. Ja, oft überlebten nur die wenigsten. Diese natürliche Auslese hat die moderne Medizin gewissermaßen ausgeschaltet. Was aber einem Individuum ›über den Berg‹ hilft, kann auf lange Sicht die Widerstandskraft der Menschheit insgesamt schwächen. Das heißt, auf lange Sicht könnten die erblichen Voraussetzungen der Menschen, ernsthaften Krankheiten zu entgehen, schlechter werden.«
»Das klingt ja ziemlich scheußlich.«
»Trotzdem muss ein Philosoph darauf hinweisen. Eine ganz andere Frage ist ja, was wir daraus für Konsequenzen ziehen. – Lass uns eine neue Zusammenfassung probieren.«
»Bitte sehr!«
»Du kannst das Leben auch als große Lotterie bezeichnen, bei der wir nur die Gewinnerlose zu sehen bekommen.«
»Wie meinst du das?«
»Die, die im Kampf ums Dasein unterlegen sind, sind doch verschwunden. Hinter jeder einzelnen Pflanzen- und Tierart auf der Welt liegen viele Jahrmillionen mit immer neuen Ziehungen von Gewinnerlosen. Und die Nieten – ja, die waren oder sind immer nur einmal zu sehen. Es gibt heute also keine Pflanzen- oder Tierarten, die wir nicht als Gewinner in der großen Lotterie des Lebens bezeichnen könnten.«
»Denn nur die Besten bleiben übrig.«
»So kannst du das ausdrücken. Und jetzt gib mir doch das Plakat, das dieser ... naja, dieser Tierwärter gebracht hat.«
Sofie reichte ihm das Plakat. Nur auf der einen Seite war darauf das Bild der Arche Noah. Auf die andere war ein Stammbaum der vielen verschiedenen Tierarten gezeichnet. Diese Seite wollte Alberto ihr jetzt zeigen.
»Die Skizze zeigt die Verteilung der einzelnen Pflanzen- und Tierarten. Du siehst, dass die einzelnen Arten wieder zu verschiedenen Gruppen, Klassen und so weiter gehören.«
»Ja.«
»Zusammen mit den Affen gehört der Mensch zu den so genannten Primaten. Primaten sind Säugetiere und alle Säugetiere gehören zu den Wirbeltieren, die wiederum zu den mehrzelligen Tieren gehören.«
»Das erinnert fast an Aristoteles.«
»Stimmt. Aber die Skizze zeigt nicht nur, wie die Verteilung der verschiedenen Arten heute aussieht. Sie sagt auch etwas über die Entwicklungsgeschichte des Lebens aus. Du siehst zum Beispiel, dass die Vögel sich irgendwann von den Kriechtieren, die Kriechtiere sich von den Amphibien und die Amphibien sich von den Fischen getrennt haben.«
»Ja, das ist klar.«
»Jedes Mal, wenn sich eine dieser Linien teilt, sind Mutationen entstanden, die zu neuen Arten geführt haben. Auf diese Weise entstanden im Laufe der Jahrmillionen auch die verschiedenen Tiergruppen und -klassen. Aber die Skizze ist stark vereinfacht. In Wirklichkeit leben heute auf der Erde über eine Million Tierarten, und diese Million ist nur ein Bruchteil der
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