Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
gibt außerdem Pflanzen und Tiere, die sich durch Knospung oder einfache Zellteilung vermehren. Bei der Frage, wie die Variationen entstehen, hat erst der so genannte Neodarwinismus Darwins Theorie komplettiert.«
»Erzähl!«
»Alles Leben und alle Vermehrung dreht sich im Grunde um Zellteilung. Wenn sich eine Zelle teilt, entstehen zwei genau gleiche Zellen mit genau demselben Erbmaterial. Unter Zellteilung verstehen wir also, dass eine Zelle sich selber kopiert.«
»Ja?«
»Aber manchmal kommt es bei diesem Prozess zu winzigen Fehlern – und deshalb wird die kopierte Zelle dann doch nicht genauso wie die Mutterzelle. Das bezeichnet die moderne Biologie als Mutation . Solche Mutationen können völlig unbedeutend sein; sie können aber auch zu klaren Veränderungen in den Eigenschaften des Individuums führen. Sie können direkt schädlich sein und diese ›Mutanten‹ werden aus der großen Nachkommenschaft immer wieder ausgemerzt. Auch viele Krankheiten gehen im Grunde auf eine Mutation zurück. Aber manchmal kann eine Mutation einem Individuum auch gerade die positive Eigenschaft liefern, die dieses Individuum braucht, um sich im Kampf ums Dasein besser durchsetzen zu können.«
»Einen längeren Hals, zum Beispiel?«
»Lamarcks Erklärung für den langen Hals der Giraffe war ja, dass sich die Giraffen immer wieder gereckt hätten. Aber dem Darwinismus zufolge lassen erworbene Eigenschaften sich nicht vererben. Darwin hielt den langen Hals der Giraffen für eine natürliche Variation der Hälse ihrer Stammeltern. Der Neodarwinismus komplettiert das durch den Hinweis auf eine klare Ursache für das Zustandekommen solcher Variationen.«
»Nämlich die Mutationen.«
»Ja, ganz zufällige Veränderungen der Erbmasse haben einigen Stammeltern der Giraffen einen etwas überdurchschnittlich langen Hals verpasst. Wenn es nicht genug zu essen gab, konnte das durchaus wichtig sein. Wer am höchsten in die Bäume hinaufreichte, kam am besten zurecht. Wir können uns außerdem vorstellen, dass einige dieser ›Urgiraffen‹ die Fähigkeit entwickelten, Nahrung aus dem Boden zu buddeln. Nach langer Zeit kann sich also eine ausgestorbene Tierart in zwei verschiedene neue Tierarten aufspalten.«
»Ich verstehe.«
»Wir nehmen uns ein paar etwas neuere Beispiele dafür vor, wie die natürliche Auslese vor sich geht. Das Prinzip ist ja sehr einfach.«
»Schieß los!«
»In England lebt eine bestimmte Schmetterlingsart, die Birkenmesser genannt wird. Wie der Name schon andeutet, leben sie auf den hellen Birkenstämmen. Wenn wir ins 18. Jahrhundert zurückgehen, dann stellen wir fest, dass damals die allermeisten Birkenmesser hell gefärbt waren. Warum waren sie das, Sofie?«
»Dann konnten hungrige Vögel sie nicht so leicht entdecken.«
»Aber ab und zu kamen auch einige dunkle Exemplare zur Welt. Das lag an rein zufälligen Mutationen. Und was, glaubst du, wurde aus den dunklen Varianten?«
»Sie waren leichter zu entdecken und deshalb konnten hungrige Vögel sie auch leichter erwischen.«
»Denn in dieser Umwelt – also auf den hellen Birkenstämmen – war die dunkle Farbe eine ungünstige Eigenschaft. Deshalb vermehrten sich immer nur die weißen Birkenmesser. Aber dann veränderte sich die Umwelt. Durch die Industrialisierung färbten sich in vielen Gegenden die weißen Stämme schwarz. Und was glaubst du, was jetzt mit den Birkenmessern passierte?«
»Jetzt kamen wohl die dunklen Exemplare am besten zurecht?«
»Ja, und es dauerte nicht lange, bis sie sich vermehrten. Zwischen 1848 und 1948 stieg in einigen Gegenden der Anteil schwarzer Birkenmesser von einem auf 99 Prozent. Die Umwelt hatte sich geändert und die helle Farbe war kein Vorteil mehr im Kampf ums Dasein. Eher war das Gegenteil der Fall. Die weißen ›Verlierer‹ wurden mit Hilfe der Vögel sofort getilgt, wenn sie sich an den Stämmen zeigten. Aber wieder kam dann eine wichtige Veränderung. Weniger Kohleverwendung und bessere Filteranlagen haben die Umwelt in den letzten Jahren wieder sauberer werden lassen.«
»Und jetzt sind die Birkenstämme wieder weiß?«
»Und deshalb kehren die Birkenmesser auch wieder zu ihrer weißen Farbe zurück – wir bezeichnen das als Anpassung . Dabei ist die Rede von einem Naturgesetz.«
»Ich verstehe.«
»Aber es gibt noch mehr Beispiele für menschliche Eingriffe in die Umwelt.«
»Woran denkst du dabei?«
»Es ist zum Beispiel versucht worden, Schädlinge mit verschiedenen Giftstoffen zu
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