Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
verpflichtet sind. Meine Verordnungen werde ich treffen zu Nutz und Frommen der Kranken nach bestem Vermögen und Urteil und von ihnen Schädigung und Unrecht fern halten. Ich werde niemandem, auch nicht auf seine Bitte hin, ein tödliches Gift verabreichen oder auch nur einen solchen Rat erteilen. Auch werde ich nie einer Frau ein Mittel zur Vernichtung keimenden Lebens geben. Was ich bei der Behandlung oder auch außerhalb der Behandlung im Leben der Menschen sehe oder höre, werde ich verschweigen und solches als Geheimnis betrachten.
Als sie am Samstagmorgen erwachte, fuhr Sofie im Bett hoch. Hatte sie das nur geträumt, oder hatte sie den Philosophen wirklich gesehen?
Sie fühlte mit einer Hand unter dem Bett nach. Doch – da lag der Brief, der heute Nacht gekommen war. Sofie wusste noch, dass sie alles über den Schicksalsglauben der Griechen gelesen hatte. Also war es nicht nur ein Traum gewesen.
Sicher hatte sie den Philosophen gesehen! Und mehr noch – sie hatte mit eigenen Augen gesehen, wie er ihren Brief an sich genommen hatte.
Sofie stand auf und schaute unters Bett. Sie zog die vielen beschriebenen Bögen hervor. Aber was war das? Ganz hinten an der Wand lag etwas Rotes. Ob das ein Schal war?
Sofie kroch unter das Bett und zog einen roten Seidenschal hervor. Diesen Schal hatte Sofie noch nie gesehen.
Sie untersuchte den Seidenschal genau und stieß einen kurzen Ruf aus, als sie sah, dass am Saum mit schwarzer Schrift etwas geschrieben stand: »HILDE« stand dort.
Hilde! Aber wer war bloß diese Hilde? Wie war es möglich, dass ihre Wege sich auf diese Weise kreuzten?
Sokrates
... die Klügste ist die, die weiß, was sie nicht weiß...
Sofie zog ein Sommerkleid an, und bald stand sie unten in der Küche. Die Mutter beugte sich über das Spülbecken. Sofie beschloss, nichts über den Seidenschal zu sagen.
»Hast du schon die Zeitung geholt?«, rutschte es Sofie heraus.
Die Mutter drehte sich um.
»Vielleicht bist du so lieb und holst sie für mich?«
Sofie lief über den Kiesweg und beugte sich bald über den grünen Briefkasten.
Nur Zeitungen. Aber sie konnte wohl auch keine postwendende Antwort auf ihren Brief erwarten. Auf der ersten Seite der Zeitung las sie einige Zeilen über das norwegische UN-Regiment im Libanon.
UN-Regiment – war so nicht die Karte von Hildes Vater abgestempelt gewesen? Aber die hatte eine norwegische Briefmarke gehabt. Vielleicht hatten die norwegischen UN-Soldaten ja ihr eigenes Postamt.
Als sie wieder in der Küche stand, sagte die Mutter spöttisch:
»Du interessierst dich plötzlich ja sehr für die Zeitung.«
Mehr sagte sie zum Glück nicht zum Thema Briefkasten oder so, weder während des Frühstücks noch später am Tag. Als sie einkaufen ging, lief Sofie mit dem Brief über die Schicksalsgläubigkeit in die Höhle.
Ihr Herz machte einen Sprung, als sie neben der Dose mit den Briefen ihres Philosophielehrers einen kleinen weißen Briefumschlag entdeckte. Sofie glaubte, ganz genau zu wissen, wer ihn dorthin gelegt hatte.
Auch dieser Umschlag hatte feuchte Ränder. Und auch er wies zwei tiefe Kerben auf, genau wie der weiße Briefumschlag, den sie gestern bekommen hatte.
Ob der Philosoph hier gewesen war? Ob er ihr geheimes Versteck kannte? Aber warum waren die Briefumschläge nass?
Von all den Fragen wurde Sofie schwindlig. Sie öffnete den Briefumschlag und las, was auf dem Zettel stand.
Liebe Sofie! Ich habe deinen Brief mit großem Interesse gelesen – und außerdem auch mit ziemlichem Kummer. Denn was Kaffeebesuche u.ä. angeht, muss ich dich leider enttäuschen. Eines Tages werden wir uns treffen, aber ich darf mich in der Kapitänskurve noch für lange Zeit nicht sehen lassen.
Ich muss außerdem hinzufügen, dass ich meine Briefe nicht mehr persönlich abliefern kann. Auf die Dauer wäre das zu riskant. Die kommenden Briefe wird mein kleiner Bote bringen. Zum Ausgleich werden sie sofort in dein Geheimversteck im Garten geliefert.
Du kannst weiterhin Kontakt zu mir aufnehmen, wenn du das Bedürfnis danach verspürst. Dann musst du einen rosa Briefumschlag mit einem süßen Plätzchen oder einem Stück Zucker darin auslegen. Wenn der Bote einen solchen Brief entdeckt, wird er ihn mir bringen.
PS. Es macht überhaupt keinen Spaß, eine Einladung von einer jungen Dame abzulehnen. Aber manchmal muss das einfach sein.
PPS. Solltest du einen roten Seidenschal finden, so muss ich dich bitten, ihn sorgfältig aufzubewahren. Es kommt ja
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