Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
einem wildfremden Mann herzulaufen. Aber sie musste den Brief holen, das war klar.
Nach einem Weilchen schlich sie sich die Treppe hinunter, schloss vorsichtig die Haustür auf und ging zum Briefkasten. Bald stand sie wieder mit dem großen Umschlag in der Hand in ihrem Zimmer. Sie setzte sich aufs Bett und hielt den Atem an. Als einige Minuten vergangen waren und sich im Haus immer noch nichts rührte, öffnete sie den Brief und fing an zu lesen.
Sie konnte natürlich keine Antwort auf ihren eigenen Brief erwarten. Die konnte frühestens morgen kommen.
Das Schicksal
Abermals guten Tag, liebe Sofie! Lass mich nur sicherheitshalber betonen, dass du nie versuchen darfst, hinter mir her zu spionieren. Wir werden uns schon irgendwann kennen lernen, aber ich muss Zeit und Ort dafür festsetzen.
Damit ist das gesagt, und du willst doch wohl nicht ungehorsam sein?
Zurück zu den Philosophen. Wir haben gesehen, wie sie versucht haben, für die Veränderungen in der Natur natürliche Erklärungen zu finden. Früher wurden solche Veränderungen durch die Mythen erklärt.
Aber auch in anderen Bereichen musste alter Aberglaube aus dem Weg geräumt werden. Wir sehen das sowohl im Zusammenhang mit Gesundheit und Krankheit , als auch in der Politik . In beiden Bereichen waren die Griechen vorher stark schicksalsgläubig gewesen.
»Schicksalsgläubigkeit« bedeutet den Glauben daran, dass im Voraus feststeht, was passieren wird. Diese Auffassung finden wir in der ganzen Welt – sowohl heute als auch zu jedem anderen Zeitpunkt der Geschichte. Hier in Nordeuropa finden wir zum Beispiel in den alten isländischen Familiensagas einen starken Glauben an die Vorsehung .
Bei den Griechen und bei anderen Völkern begegnet uns außerdem die Vorstellung, dass die Menschen durch verschiedene Orakel einen Einblick in ihr Schicksal nehmen können. Das heißt, dass sich das Schicksal eines Menschen oder eines Staates auf verschiedene Weise vorhersehen und aus bestimmten »Vorzeichen« deuten lässt.
Es gibt noch immer viele Menschen, die es für möglich halten, Karten zu legen, aus der Hand zu lesen oder die Sterne zu deuten.
Sehr verbreitet ist auch das Wahrsagen aus dem Kaffeesatz. Wenn eine Tasse Kaffee leer getrunken worden ist, bleibt gerne noch etwas Kaffeesatz unten in der Tasse. Vielleicht bildet der Kaffeesatz ein bestimmtes Bild oder Muster – jedenfalls, wenn wir ein bisschen Phantasie zu Hilfe nehmen. Wenn der Kaffeesatz aussieht wie ein Auto, dann bedeutet das vielleicht, dass die Person, die die Tasse leer getrunken hat, bald eine lange Autofahrt antreten wird.
Wir sehen, dass der »Wahrsager« versucht, etwas zu deuten, was eigentlich nicht zu deuten ist. Das ist typisch für alle Weissagekunst. Und gerade weil das, woraus wir »weissagen«, so unklar ist, ist es meistens gar nicht so leicht, dem Wahrsager zu widersprechen.
Wenn wir zum Sternenhimmel aufschauen, dann sehen wir ein wahres Chaos aus leuchtenden Pünktchen. Dennoch haben im Laufe der Geschichte viele Menschen geglaubt, die Sterne könnten uns etwas über unser Leben auf der Erde erzählen. Noch heute gibt es offenbar Politiker, die Astrologen um Rat bitten, ehe sie wichtige Entschlüsse fassen.
Das Orakel von Delphi
Die Griechen glaubten, das berühmte Orakel von Delphi könnte den Menschen Aufschluss über ihr Schicksal geben. Hier war der Gott Apollon der Orakelgott. Er sprach durch die Priesterin Pythia , die auf einem Schemel über einer Erdspalte saß. Aus dieser Spalte stiegen betäubende Dämpfe auf, von denen Pythia schwindlig wurde. Das musste sein, um sie zu Apollons Sprachrohr zu machen.
Wer nach Delphi kam, teilte seine Frage erst den dortigen Priestern mit. Die gingen dann damit zu Pythia. Sie gab eine Antwort, die so unverständlich oder so vieldeutig war, dass die Priester für den Bittsteller diese Antwort »auslegen« mussten.
Auf diese Weise konnten die Griechen sich der Weisheit des Apollon bedienen, denn die Griechen glaubten, Apollon wisse alles – sowohl über die Vergangenheit als auch über die Zukunft.
Viele Herrscher wagten nicht, in den Krieg zu ziehen oder andere wichtige Beschlüsse zu fassen, ehe sie das Orakel von Delphi befragt hatten. So wurden die Apollon-Priester fast so etwas wie Diplomaten und Berater, die über besonders großes Wissen über Volk und Land verfügten.
Am Tempel von Delphi stand eine berühmte Inschrift: ERKENNE DICH SELBST! Das sollte heißen, dass die Menschen niemals glauben durften, mehr
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