Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
die war allen Menschen gemeinsam. Vielleicht konnte man die Umwelt und die gesellschaftlichen Verhältnisse mit den Zuständen vergleichen, die unten in Platons Höhle herrschten. Durch die Vernunft kann der Einzelne versuchen, aus der Finsternis der Höhle nach oben zu kriechen. Aber eine solche Wanderung verlangte eine große Dosis persönlichen Mut. Sokrates war ein gutes Beispiel für einen Menschen, der sich mit Hilfe der Vernunft von den herrschenden Auffassungen seiner Zeit befreien konnte.
Am Ende schrieb sie: »Heutzutage kommen Menschen aus verschiedenen Ländern und Kulturen in immer dichteren Kontakt miteinander. Deshalb können im selben Wohnblock Christen, Moslems und Buddhisten wohnen. Und dann wird es wichtiger, den Glauben der anderen zu tolerieren, statt zu fragen, warum nicht alle dasselbe glauben.«
Doch – Sofie fand, mit dem, was sie von ihrem Philosophielehrer gelernt hatte, käme sie schon ein Stück weit. Also konnte sie auch noch eine Portion angeborene Vernunft und das, was sie in anderen Zusammenhängen gehört oder gelesen hatte, hinzugeben.
Sie machte sich an die dritte Frage. »Was verstehen wir unter Gewissen? Glaubst du, alle Menschen haben dasselbe Gewissen?« Darüber hatten sie in der Klasse viel geredet. Sofie schrieb: »Unter Gewissen verstehen wir die Fähigkeit der Menschen, auf Recht und Unrecht zu reagieren. Nach meiner persönlichen Meinung verfügen alle Menschen über diese Fähigkeit, das heißt, das Gewissen ist angeboren. Sokrates hätte dasselbe gesagt. Aber was genau das Gewissen sagt, kann von Mensch zu Mensch stark unterschiedlich sein. Die Frage ist, ob die Sophisten nicht auf einer wichtigen Spur waren. Sie glaubten, dass die Umwelt, in der jeder Einzelne aufwächst, bestimmt, was er für richtig hält und was für falsch. Sokrates dagegen glaubte, das Gewissen sei bei allen Menschen gleich. Vielleicht hatten beide Recht. Obwohl nicht alle Menschen ein schlechtes Gewissen haben, wenn sie nackt herumlaufen, haben die meisten doch ein schlechtes Gewissen, wenn sie einen anderen Menschen gemein behandeln. Außerdem muss betont werden, dass es nicht dasselbe ist, ein Gewissen zu haben und es zu benutzen. In einzelnen Situationen kann es aussehen, als ob Menschen völlig gewissenlos handelten, aber nach meiner persönlichen Meinung gibt es auch bei ihnen eine Art Gewissen, selbst wenn es gut versteckt ist. Ebenso kann es aussehen, als ob manche Menschen überhaupt keine Vernunft hätten, aber das liegt nur daran, dass sie sie nicht anwenden.
PS. Vernunft und Gewissen können mit einem Muskel verglichen werden. Wenn man einen Muskel nicht benutzt, wird er langsam schwächer und schlaffer.«
Nun war nur noch eine Frage übrig. »Was verstehen wir unter Wertepriorität?« Auch darüber hatten sie in der letzten Zeit viel geredet. Es konnte zum Beispiel einen Wert haben, Auto zu fahren, damit man rasch von einem Ort zum anderen kam. Aber wenn das Autofahren zum Waldsterben und zur Vergiftung der Natur führte, stand man vor einer »Wahl der Werte«. Sofie glaubte, nach gründlicher Überlegung zu der Überzeugung gekommen zu sein, dass gesunde Wälder und saubere Natur wichtiger seien als die Möglichkeit, schnell zur Arbeit zu kommen. Sie führte noch weitere Beispiele an. Schließlich schrieb sie: »Es ist meine persönliche Meinung, dass Philosophie wichtiger ist als englische Grammatik. Deshalb wäre es eine vernünftige Wertepriorität, wenn das Fach Philosophie in den Stundenplan aufgenommen und der Englischunterricht dafür eingeschränkt würde.«
In der letzten Pause zog der Lehrer Sofie beiseite.
»Ich habe deine Religionsarbeit schon gelesen«, sagte er. »Sie lag fast ganz oben.«
»Ich hoffe, sie hat Ihnen gefallen.«
»Genau darüber wollte ich mir dir reden. In vieler Hinsicht hast du sehr reife Antworten gegeben. Überraschend reif, Sofie. Und selbständig. Aber hattest du die Hausaufgaben gemacht?«
Sofie wand sich.
»Sie haben gesagt, dass Ihnen persönliche Überlegungen wichtig sind.«
»Naja, aber es gibt da schon Grenzen.«
Jetzt blickte Sofie dem Lehrer voll in die Augen. Sie glaubte, sich das nach allem, was sie in den letzten Tagen erlebt hatte, erlauben zu können.
»Ich habe angefangen, mich mit Philosophie zu beschäftigen«, sagte sie. »Das gibt ein gutes Fundament für eigene Meinungen.«
»Aber es wird nicht leicht sein, deine Arbeit zu benoten. Eigentlich kann ich dir nur eine Eins geben oder eine Sechs.«
»Weil ich
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