Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
wollen und benutzte Sofie deshalb als Zwischenglied? War das vielleicht das Geschenk, von dem sie »ihr ganzes Leben lang etwas haben sollte«?
Wenn dieser seltsame Mensch wirklich im Libanon war, wie hatte er dann überhaupt Sofies Adresse herausfinden können? Aber das war noch nicht alles: Sofie und Hilde hatten jedenfalls zwei Gemeinsamkeiten. Wenn auch Hilde am 15. Juni Geburtstag hatte, dann waren sie am selben Tag geboren. Und beide hatten einen Vater, der in der Welt herumreiste.
Sofie fühlte sich in eine magische Welt hineingezogen. Vielleicht war es ja doch nicht so dumm, ans Schicksal zu glauben. Naja – sie durfte keine übereilten Schlussfolgerungen ziehen; das alles konnte auch eine natürliche Erklärung haben. Aber wie konnte Alberto Knox Hildes Brieftasche gefunden haben, wo Hilde doch in Lillesand wohnte? Das war ja über hundert Kilometer weit weg. Und warum fand Sofie diese Postkarte auf dem Boden? War sie dem Postboten aus dem Postsack gefallen, ehe er Sofies Briefkasten erreicht hatte? Aber warum hatte er ausgerechnet diese Karte verloren?
»Du bist ja total verrückt!«, rief Jorunn, als sie Sofie beim Supermarkt entdeckte.
»Tut mir Leid.«
Jorunn musterte sie streng wie eine Lehrerin.
»Ich hoffe, du hast eine gute Erklärung.«
»Es hängt mit der UNO zusammen«, antwortete Sofie. »Ich bin im Libanon von einer feindlichen Miliz aufgehalten worden.«
»Pah! Du bist einfach verliebt.«
Sie rannten zur Schule, so schnell ihre vier Beine sie nur trugen.
Die Religionsarbeit, für die Sofie also nicht gelernt hatte, wurde in der dritten Stunde ausgeteilt. Auf dem Bogen stand:
Lebenssicht und Toleranz
Mache eine Liste dessen, was ein Mensch wissen kann. Mache danach eine Liste dessen, was wir nur glauben können.
Zeige einige Faktoren auf, die die Lebenssicht eines Menschen bestimmen.
Was verstehen wir unter Gewissen? Glaubst du, alle Menschen haben dasselbe Gewissen?
Was verstehen wir unter Wertepriorität?
Sofie dachte lange nach, ehe sie anfing zu schreiben. Konnte sie hier etwas von dem verwerten, was sie bei Alberto Knox gelernt hatte? Das musste sie fast, sie hatte schließlich seit vielen Tagen keinen Blick mehr ins Religionsbuch geworfen. Als sie erst angefangen hatte zu schreiben, strömten die Sätze nur so aus ihr heraus.
Sofie schrieb, dass wir wissen können, dass der Mond kein großer Käse ist und dass es auch auf seiner Rückseite Krater gibt, dass sowohl Sokrates als auch Jesus zum Tode verurteilt wurden, dass alle Menschen früher oder später sterben müssen, dass die großen Tempel der Akropolis um das Jahr 400 vor Christus nach den Perserkriegen gebaut wurden und dass das wichtigste griechische Orakel das von Delphi war. Als Beispiele für Glaubensfragen nannte sie die, ob es auf anderen Planeten Leben gibt oder nicht, ob es einen Gott gibt oder nicht, ob es ein Leben nach dem Tod gibt oder nicht und ob Jesus Gottes Sohn oder nur ein kluger Mensch war.
»Wir können jedenfalls nicht wissen, woher die Welt kommt«, schrieb sie schließlich. »Das Universum lässt sich mit einem riesigen Kaninchen vergleichen, das aus einem großen Zylinderhut gezogen wird. Die Philosophen versuchen, an einem der dünnen Haare des Kaninchenfells nach oben zu klettern, um dem großen Zauberkünstler in die Augen zu starren. Es ist eine offene Frage, ob ihnen das je gelingen wird. Aber wenn ein Philosoph auf den Rücken des anderen steigt, werden sie im weichen Kaninchenfell immer höher kommen, und dann besteht nach meiner persönlichen Meinung eine gewisse Möglichkeit dafür, dass sie es eines Tages schaffen werden.
PS. In der Bibel lesen wir über etwas, das eines der dünnen Haare im Kaninchenfell gewesen sein kann. Dieses Haar wird der Turm von Babel genannt und wurde dem Erdboden gleichgemacht, weil es dem Zauberkünstler nicht gefiel, dass die Menschen auf dem weißen Kaninchen herumkletterten, das er gerade erschaffen hatte.«
Nun kam die nächste Frage. »Zeige einige Faktoren auf, die die Lebenssicht eines Menschen bestimmen.« Hier waren natürlich Erziehung und Umwelt wichtige Faktoren. Menschen, die zu Platons Zeiten lebten, hatten eine andere Lebenssicht als die Menschen von heute, einfach, weil sie zu einer anderen Zeit und in einer anderen Umwelt lebten. Ansonsten war es auch wichtig, welche Erfahrungen man sich zulegte. Aber auch die menschliche Vernunft war wichtig bei der Entscheidung für eine Lebenssicht. Und die Vernunft war nicht von der Umwelt bestimmt,
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