Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
denn der Mensch ist ein denkendes Wesen. Wenn du nicht denkst, bist du folglich kein Mensch.«
»Sofie!«
»Stell dir vor, hier lebten nur Pflanzen und Tiere. Dann könnte niemand zwischen ›Katzen‹ und ›Hunden‹, ›Lilien‹ und ›Stachelbeeren‹ unterscheiden. Auch Pflanzen und Tiere leben, aber nur wir können die Natur in Gruppen oder Klassen einteilen.«
»Du bist wirklich die seltsamste Tochter, die ich habe«, sagte die Mutter jetzt.
»Das wäre ja auch noch schöner«, sagte Sofie. »Alle Menschen sind mehr oder weniger seltsam. Ich bin ein Mensch, also bin ich mehr oder weniger seltsam. Du hast nur eine Tochter, also bin ich die seltsamste.«
»Ich habe damit sagen wollen, dass du mich erschreckst mit all diesem ... Gerede, mit dem du angefangen hast.«
»Dann bist du leicht zu erschrecken.«
Später am Nachmittag ging Sofie wieder in die Höhle. Es gelang ihr, unentdeckt von der Mutter die große Kuchendose auf ihr Zimmer zu schmuggeln.
Zuerst sortierte sie alle Blätter in der richtigen Reihenfolge, knipste Löcher hinein und heftete sie vor das Aristoteles-Kapitel in den Ordner. Ganz am Ende schrieb sie in die rechte obere Ecke jedes Blattes eine Seitenzahl. Sie hatte schon über fünfzig Seiten. Sofie war dabei, sich ihr eigenes Philosophiebuch zu machen. Sie schrieb es nicht selber; es wurde extra für sie geschrieben.
An die Hausaufgaben für Montag hatte sie noch gar nicht denken können. Vielleicht würde es in Religion eine Übungsarbeit geben, aber der Lehrer hatte immer gesagt, dass ihm persönliches Engagement und eigene Überlegungen wichtig seien. Sofie hatte das Gefühl, für beides langsam eine gewisse Grundlage zu bekommen.
Der Hellenismus
... ein Funken vom Feuer ...
Der Philosophielehrer schickte seine Briefe zwar jetzt direkt in die Hecke, aber aus alter Gewohnheit schaute Sofie doch am Montagmorgen in den Briefkasten.
Der war leer und etwas anderes war ja auch nicht zu erwarten gewesen. Sie machte sich auf den Weg durch den Kløverveien.
Plötzlich entdeckte sie auf dem Boden ein Foto. Das Foto zeigte einen weißen Jeep mit einer blauen Flagge. Auf der Flagge stand »UN«. Ob das die UNO-Flagge war?
Sofie drehte das Bild um und sah erst jetzt, dass es sich um eine Postkarte handelte. An »Hilde Møller Knag, c/o Sofie Amundsen ...« Die Karte hatte eine norwegische Briefmarke und war am Freitag, dem 15. Juni 1990, vom UN-Regiment abgestempelt worden.
Am 15. Juni! Das war Sofies Geburtstag!
Auf der Karte stand:
Liebe Hilde! Ich gehe davon aus, dass du immer noch deinen fünfzehnten Geburtstag feierst. Oder ist schon der Tag danach? Naja, es spielt kaum eine Rolle, wie lange das Geschenk vorhält. In gewisser Hinsicht wirst du ja dein ganzes Leben lang etwas davon haben. Aber ich gratuliere dir eben noch einmal. Jetzt verstehst du vielleicht, warum ich die Karte an Sofie schicke. Ich bin sicher, dass sie sie an dich weiterreichen wird.
PS. Mama hat mir erzählt, dass du deine Brieftasche verloren hast. Ich verspreche, dir die 150 Kronen zu ersetzen. Einen neuen Schülerausweis bekommst du sicher in der Schule, ehe sie für den Sommer dichtmacht.
Liebe Grüße, Papa
Sofie blieb wie angeleimt stehen. Wann war die letzte Karte abgestempelt gewesen? Irgendetwas tief in ihrem Bewusstsein erzählte ihr, dass auch die Karte mit dem Badestrand im Juni abgestempelt worden war – obwohl es bis dahin noch einen ganzen Monat dauerte. Sie hatte nur nicht genau hingesehen ...
Sie sah auf die Uhr, dann stürzte sie zum Haus zurück. Heute musste sie dann eben zu spät kommen.
Sofie schloss die Tür auf und lief auf ihr Zimmer. Hier fand sie die erste Karte an Hilde unter dem roten Seidenschal. Doch – auch die war am 15. Juni abgestempelt. An Sofies Geburtstag und dem Tag vor den Sommerferien.
Während sie zum Supermarkt rannte, wo sie Jorunn treffen wollte, zerbrach sie sich den Kopf.
Wer war Hilde? Wie konnte ihr Vater es für selbstverständlich halten, dass Sofie sie finden würde? Und es ergab einfach keinen Sinn, dass er die Karten an Sofie schickte und nicht direkt an seine Tochter. Sofie ging davon aus, dass es im Grunde unmöglich war, dass er die Adresse seiner Tochter nicht wusste. Ob alles ein Jux sein sollte? Wollte er seine Tochter an ihrem Geburtstag dadurch überraschen, dass er ein wildfremdes Mädchen als Postbotin verwendete? Hatte sie deshalb einen Monat Vorsprung bekommen? Konnte er seiner Tochter eine neue Freundin zum Geburtstag schenken
Weitere Kostenlose Bücher